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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mit mir Mitleid hatte – das war wirklich das Letzte!
    »Ich habe in den letzten Tagen viele Männer sterben sehen«, fuhr er fort, »und glaub mir, das ist nichts, was ich je vergessen werde. Aber ich habe auch sehr, sehr viele Männer beten sehen – zu Gott, zu Jesus, Maria, einzelnen Heiligen. Gott ist viel größer, als wir uns je vorstellen können. Warum sollte er also nicht unterschiedlichen Menschen in unterschiedlicher Gestalt erscheinen? Dein Vater war Christ, aber er war auch Jude. Er gehörte zu uns. Wir möchten dich fragen, ob es deine Eltern in irgendeiner Weise kränken würde, wenn wir Kaddisch für ihn beten.«
    »Onkel Matthew, ganz sicher nicht! Das wäre so schön … und weißt du, ich war ja bei der Beerdigung in Holland nicht dabei …«
    »Eben«, sagte er freundlich. »Das wäre dann also geklärt.«
    Ich hängte mich an seinen Arm. »Ich bin so froh, dass du wieder da bist!«
    »Das kann ich von ganzem Herzen zurückgeben! Ich habe die wundervollsten Dinge über dich gehört – abgesehen davon, dass allein deine Anwesenheit Amanda vor der Verzweiflung bewahrt hat. Ich hätte niemals ohne ihre Zustimmung gehen dürfen. Aber ein Wort – La France!  – und ich war nicht mehr zu halten.« Er schüttelte zerknirscht den Kopf. »Da siehst du, was ich mir eingebrockt habe! Meine teuren Geräte verloren, ich selbst mit knapper Not davongekommen und mehr als dankbar, dass meine Frau mich überhaupt zurücknimmt.«
    »Und jetzt?«, fragte ich und ließ ihn wieder los.
    »Sind wir noch immer im Krieg. Ich werde mithelfen, die Franzosen zu versorgen, und mich dann bei der Home Guard melden. Und Amanda möchte neben der Arbeit im Elysée mindestens einen Tag pro Woche zurück zu ihren alten Leuten. Wir werden sehen, wie wir das alles regeln. Hast du eigentlich, wo wir gerade dabei sind, auch einen bestimmten Wunsch?«
    »Nein!«, erwiderte ich und lachte. »Ich will nur bei euch bleiben. Sonst ist mir alles egal.«
    »Das wäre der nächste Punkt«, fuhr Onkel Matthew ernst fort. »Uns steht eine zu allem entschlossene Macht gegenüber – was ich dir wohl kaum zu sagen brauche! Drüben in Frankreich haben sie uns einfach überrannt, und sollten sie in den nächsten Tagen hier losschlagen, haben wir ihnen nicht mehr viel entgegenzusetzen. Frances …« Er zögerte einen Moment und entschloss sich dann, offen zu reden. »Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass sie die Juden in diesem Land verschonen werden. Unter Umständen wäre es besser für dich, nicht bei einer jüdischen Familie zu bleiben.«
    Ich blieb ungläubig stehen. Onkel Matthew merkte es nicht, da er zu Boden sah, während er weiterging. »In einer anderen Familie könntest du vielleicht … hm, unterschlüpfen. Niemand müsste je erfahren, wer du bist!«, meinte er.
    Als er sich umdrehte, lagen höchstens fünf Schritte zwischen uns, aber mir kam es vor wie ein ganzer Ozean. »Von mir aus kann jeder erfahren, wer ich bin«, sagte ich. »Ich fange nämlich langsam an, ganz zufrieden damit zu sein! Ihr könnt mich nicht mehr weiterschieben, Onkel Matthew, denn ich bin jetzt bei euch zu Hause!«
    »Weiterschieben?! Wir sind in großer Sorge um deine Sicherheit …«
    »Klar. Ihr wollt mich meiner Mutter unversehrt zurückgeben, wenn sie kommt. Weißt du, dass ich das langsam nicht mehr hören kann?« Plötzlich schrie ich ihn an: »Vielleicht kommt meine Mutter nicht zurück! Vielleicht ist sie schon tot! Vielleicht habe ich jetzt schon niemanden mehr außer euch!«
    »Verflixt«, murmelte Onkel Matthew. »Ich hab’s vermasselt. Beruhige dich, Frances, niemand will dich irgendwohin schieben. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, in Ordnung? Es war eine lange Nacht. Vielleicht haben wir nicht richtig nachgedacht.«
    »Offenbar nicht!«, erwiderte ich und begann zu zittern – nicht weil ich ernsthaft Angst hatte, fortgeschickt zu werden, sondern weil ich kaum glauben konnte, was ich gerade gesagt hatte.
    Vielleicht kommt meine Mutter nicht zurück.
    Und Onkel Matthew hatte nicht einmal widersprochen. Er und Amanda hatten also auch schon daran gedacht.
    Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als wir nach Hause zurückkehrten. Amanda war in der Küche und buk Challot wie in alten Zeiten, die Wangen rot von der Ofenhitze oder vielleicht vor Freude, die Augen strahlend und vergnügt. »Na, wie sieht’s aus? Haben wir heute Abend eine kleine Gedenkfeier?«, fragte sie mich.
    »Haben wir«, antwortete ich und klaute ein

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