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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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den Tellern, rissen gierig riesige Brotstücke ab und tauchten sie in die Suppe, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen. Gepäck hatten sie nicht dabei. Sie waren in den Kleidern gekommen, die sie am Leib trugen, und in einer Ecke der Turnhalle wurden bereits Jacken und Schuhe für diejenigen organisiert, die nicht einmal mehr dies besaßen.
    »Frag deine Mum nach abgelegten Sachen von deinem Dad!«, bat mich eine Frau. »Und sie soll sie möglichst gleich herbringen.«
    »In Ordnung!«, erwiderte ich und eilte hinaus, von dem spontanen, freudigen Wunsch erfüllt, ebenfalls etwas beizutragen. So eifrig war ich, dass ich weder rechts noch links schaute und im ersten Moment nicht wusste, aus welcher Richtung plötzlich mein Name gerufen wurde.
    »Frances? Frances! Frances! «
    Ich blieb stehen, sah mich atemlos um. Onkel Matthew …? Doch ich konnte ihn nirgends entdecken, nur der Vollbart aus der Synagoge drückte seinem Kollegen einen Stapel Papier und Stifte in die Hand und eilte mit großen Schritten auf mich zu.
    Und ich, die ihn nun endlich erkannte, war so schockiert, dass ich mich auf der Stelle umdrehte und davonrannte! »Amanda!«, kreischte ich aus voller Kehle. Ziska und Frances, die Meisterinnen der unpassenden Antwort, die Champions des Fluchtreflexes.
    Aber meine Antwort spielte ohnehin keine Rolle mehr. Amanda sah mich kommen, Onkel Matthew in meinem Rücken, und nun ja, ich erkannte gleich, dass der Streit, den sie vor seiner Abfahrt gehabt hatten, sich erledigt haben musste. Sie taumelten aufeinander zu, ungläubig, glücklich, erschüttert, fingen sich gegenseitig auf und versuchten dann alles Mögliche gleichzeitig zu tun: lachen, weinen, küssen, flüstern. Ich stand daneben, hin- und hergerissen zwischen Faszination und tiefster Verlegenheit – der Moment, in dem im Kino immer abgeblendet wurde, war längst vorbei und ich hätte es geschätzt, wenn die Umstehenden jetzt wenigstens weggeguckt hätten, aber die dachten gar nicht daran. Einige Franzosen klatschten sogar Beifall.
    »Ich gehe schon mal nach Hause und setze den Tee auf«, sagte ich schließlich. Aber es sah nicht so aus, als interessierte es irgendjemanden, dass ich auch noch da war.
    So trabte ich heimwärts, sann darüber nach, wie aufwühlend und anstrengend es war, der Liebe ausgeliefert zu sein, und war von nun an fest überzeugt, dass man in Zeiten des Krieges besser darauf verzichtete.
    Onkel Matthew und der Schreibwarenhändler aus Finchley, der die Idee gehabt hatte, sorgten dafür, dass die Post der Soldaten schnell auf den Weg gebracht wurde. Anschließend kam er nach Hause, schlief fast vierundzwanzig Stunden durch, rasierte den Bart ab, der ihn so fremd hatte erscheinen lassen, und war danach auch für mich endlich »wieder da«.
    »Sag, was hältst du von einem kleinen Spaziergang, Frances?«, schlug er schon am übernächsten Morgen vor.
    »Allein?«, fragte ich, verblüfft und ein wenig beunruhigt, denn ich war davon ausgegangen, dass er und Amanda sich nun keine Sekunde mehr trennen würden! Aber Onkel Matthew meinte: »Du und ich, wir haben uns so lange nicht gesehen – ich finde, wir sollten ein paar Dinge besprechen.«
    Der Weg unsere Straße hinab zog sich unerwartet in die Länge. Alle paar Meter kam jemand aus dem Haus, um Onkel Matthew zu begrüßen und ihm dieselben Fragen zu stellen: ob er am Strand und in den Booten dabei gewesen war, ob es stimmte, dass die Briten jegliches Kriegsgerät in Frankreich hatten zurücklassen müssen, und woran es lag, dass die Hunnen uns überhaupt geschlagen hatten. Onkel Matthew erklärte jedes Mal geduldig, dass er bis zum Bauch im Ärmelkanal gestanden habe, während um ihn herum Schüsse ins Wasser peitschten, dass sie auch vorher schon sechzehn Stunden am Tag aus der Luft beschossen worden waren, ohne dass sich britische Flugzeuge blicken ließen, und dass England unzureichend vorbereitet in diesen Krieg gegangen war.
    Je öfter ich es hörte, desto erschrockener war ich, verstand ich doch erst jetzt, dass es ein halbes Wunder war, Onkel Matthew gesund wiederzuhaben! Ich war froh, als wir endlich die Nebenstraßen erreicht hatten, in denen uns niemand kannte, niemand Fragen stellte.
    »Frances, ich möchte dir sagen, wie unendlich leid es mir tut, dass du deinen Vater verloren hast«, begann Onkel Matthew und sah mich so traurig an, dass mir zu meinem Entsetzen sofort Tränen in die Augen schossen. Um Papa nicht weinen zu können und es dann zu tun, weil jemand

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