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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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langen Gang mit glänzendem Linoleumfußboden, wo es nach der Kohlsuppe roch, die es zum Mittagessen gegeben hatte.
    Am Ende des Gangs kamen vier Schwestern mit leeren Rollstühlen aus dem Aufzug, um weitere Bewohner einzusammeln. »Lauf über die Treppe, Kind, im Aufzug ist nicht genug Platz!«, sagte die Oberschwester zu mir, während sie Herrn Zucker hineinrollte.
    Ich starrte sie an. »Die Treppe?«, stammelte ich. »Allein?«
    Amanda nahm meine Hände und legte sie auf die Griffe des Rollstuhls von Herrn Mittenbaum. »Fahr du mit hinunter, Frances, ich nehme die Treppe«, sagte sie, und bevor ich mehr als ein entsetztes Keuchen von mir gegeben hatte, war sie auch schon verschwunden und ich stand im Aufzug, eingekeilt von fremden Schwestern und Rollstühlen, allein, ohne sie, und die Tür schob sich zu.
    »Amanda! Nein! Bleib hier!« Es fühlte sich an wie ein Schrei, obwohl es nicht mehr als ein heiseres Flüstern war. Schauerlich quietschten und kratzten meine Hände die Metalltür entlang, während diese unaufhaltsam nach oben in die Wand glitt und verschwand.
    »Ein Märchen aus uralten Zeiten …«, sang Herr Mittenbaum glücklich.
    Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf Amanda, die sogar noch vor uns im Keller angekommen war. Ich wankte hinaus, an ihr vorbei, und fühlte mich albern.
    »Willst du Herrn Mittenbaum in den Luftschutzkeller rollen, Frances?«, fragte sie.
    Ich fasste den linken Rollstuhlgriff, sie den rechten. Nebeneinander schoben wir Herrn Mittenbaum durch den Keller. »Tu das nie wieder!«, brachte ich endlich heraus.
    Sie warf mir einen raschen, verblüfften Blick zu, den ich nicht erwiderte. Nach ein paar Metern hörte ich, wie sie leise »Ach« sagte, aber da waren wir schon im Luftschutzkeller und ich half, Herrn Mittenbaum auf einen der freien Plätze an der Wand zu setzen.
    Es war wärmer und heller hier unten, als ich erwartet hatte – kein düsterer, feuchter Raum, in denen sich Bombenangriffe nach meiner Vorstellung nur abspielen konnten. Es gab Radio und Grammofon, reichlich Decken und sogar Betten, die von schwächeren Bewohnern bereits belegt waren. Die Sirene drang nur noch leise und von weit entfernt zu uns, als ob wir unmöglich gemeint sein konnten. »Ich helfe noch die Übrigen zu holen, dann komme ich zu dir«, sagte Amanda sanft.
    »In Ordnung«, erwiderte ich kurz angebunden.
    »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus?«, begann Herr Mittenbaum. Aber Herr Becher drückte mir sofort den Standard in die Hand: »Genug gesungen, jetzt ist die Zeitung dran!«
    »Wie lange bleiben wir denn hier?«, fragte ich ihn.
    »Na, bis zur Entwarnung«, antwortete Herr Becher und gab eine etwas zittrige Imitation des entsprechenden Signals zum Besten.
    »Und wie lange kann das dauern?«
    »Ach, das geht blitzschnell! Die deutschen Heinkels und Messerschmidts haben ganz kleine Treibstofftanks. Wenn sie länger als ein paar Minuten über London bleiben, fallen sie auf dem Rückweg in den Kanal … und platsch! Aus!«
    Er kicherte. Mit neuer Hoffnung hing ich an seinen Lippen. »Ist das wahr?«
    »So stand es in der Zeitung!«, meinte Herr Becher.
    Trotzdem dauerte es fast zwei Stunden, bis der einzelne Dauerton der Entwarnung uns aus dem Keller entließ, und eine weitere Stunde, bis der umständliche Rücktransport der alten Leute beendet war und ich einen ersten Blick ins Freie werfen konnte.
    Zu meiner Verwunderung hatte sich draußen nicht das Geringste verändert. Es gab keinerlei Schäden und die Passanten spazierten in aller Ruhe über die Straße, als kämen sie aus dem Kaufhaus und nicht geradewegs aus den Luftschutzräumen. »War das alles?«, fragte ich verdutzt.
    »Aber natürlich war das alles!« Amanda hob eine Augenbraue. »Glaubst du, uns passiert etwas – jetzt, zwei Tage vor Garys Heimaturlaub? Gottes Ratschlüsse mögen unergründlich sein, aber dass er ein so schlechtes Timing haben soll … das kann ich mir einfach nicht vorstellen!«
    Der Gedanke an Gary belebte mich sofort. Seine ersten beiden Besuche hatte ich verpasst, sie fielen in meine Zeit in Tail’s End, und auch um diesen dritten Heimaturlaub hatten wir kurze Zeit bangen müssen: Nachdem Italien uns den Krieg erklärt hatte, rechnete man mit einem Angriff auf die britischen Stützpunkte im Mittelmeer. »Nun werden sie ihn sicher nicht gehen lassen!«, hatte sich Amanda gesorgt.
    Aber schon einen Tag später war ein Telegramm von Gary eingetroffen: Sein sauer verdienter Urlaub würde

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