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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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kleines Stück Teig, nicht aus Appetit, sondern weil ich glaubte, dass sie es von mir erwartete. Dies war ihr erster richtiger Schabbat seit Langem, mit ihrem Ehemann an seinem angestammten Platz und »dem vollen Programm«, wie Gary es genannt hätte. Um nichts in der Welt hätte ich ihr diesen Abend verdorben!
    Also schluckte ich meine Tränen und klaute Teig, zog ihr die Schleife an der Küchenschürze auf, verstellte den Ofen und provozierte sie so lange mit kleinen Streichen, bis sie mich buchstäblich mit dem Kochlöffel aus der Küche jagte. »Frances, wie alt bist du eigentlich?«, rief sie mir so zufrieden nach, wie ich beabsichtigt hatte.
    Erschöpft lag ich auf meinem Bett, in dem ich seit zwei Nächten wieder schlief, und starrte an die Decke, suchte in mir nach irgendeiner Hoffnung, einem Gebet, um den furchtbaren Satz wiedergutzumachen. Aber da war nichts.
    Vielleicht kommt sie nicht zurück.
    Kein neuer Satz, gewiss nicht, und ich wusste längst, dass es die Wahrheit war. Aber ich hätte ihn niemals aussprechen dürfen. Mir war, als hätte ich, indem ich ihn aussprach, etwas Unaufhaltsames selbst in Gang gesetzt.
    Du kannst für deine Mutter nichts mehr tun.
    Lebe! Und lebe gern!
    Ich bin jetzt bei euch zu Hause.
    Ein Gedanke zu Ende gedacht. Ein neuer begonnen.

16
    Herr Mittenbaum hatte eine Schwäche für Volkslieder. Kein mitgebrachter Schokoladenkuchen, keine selbst gestrickten wollenen Fußwärmer waren imstande, ihm das Strahlen zu entlocken, das sein Gesicht erhellte, sobald ich die ersten Töne von »Ein Männlein steht im Walde« anstimmte. Beim ersten Mal war ich vor Unbehagen beinahe geschrumpft, so unpassend erschien es mir, deutsches Liedgut ausgerechnet ins jüdische Altenheim hineinzutragen! Aber nachdem mehrere Schwestern den Kopf ins Zimmer gesteckt und bemerkt hatten, für heimwehkranke Bewohner sei dies genau die richtige Medizin und ob ich zufällig auch »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« konnte, hatte ich zu Hause alles repetiert, was der Musiklehrer in Neukölln uns jemals beigebracht hatte.
    Dies war mein zweiter Besuch bei Herrn Mittenbaum, gebürtig aus Oberhausen, und ich sang mich tapfer durch sämtliche Strophen der »Lorelei«. Herr Zucker, Herr Friedmann und Herr Becher, die anderen alten Herren dieses Zimmers, saßen auf ihren Betten und summten leise mit, obwohl ich wusste, dass Herr Becher in Wirklichkeit nur auf eines wartete: dass ich endlich anfing, die Zeitung zu übersetzen.
    Der scharfe, helle Ton der Sirene schnitt mitten durch das Lied, mitten durch meine Brust. Ich saß mit offenem Mund, stumm, atemlos, ungläubig – obwohl ich doch wusste, dass mein erster Fliegeralarm längst überfällig war! In der Schule hatte ich gar nicht zugeben wollen, dass ich noch keinen erlebt hatte; insgeheim hatte ich mir schon gewünscht, es bald hinter mich zu bringen, damit ich endlich Bescheid wusste …
    Mit diesem Wunsch war es in derselben Sekunde vorbei, als die Sirene aufheulte – erst etwas zittrig, als sei sie sich nicht ganz sicher, dann in einem markerschütternden Auf und Ab, das alle Hoffnung auf einen Irrtum zunichtemachte. »W-w-was machen wir denn jetzt?«, stotterte ich schreckerstarrt.
    »Wir warten«, sagte Herr Becher. »Fang doch schon mal an mit der ersten Seite!«
    Wie hypnotisiert griff ich nach der Zeitung und hauchte: »Präsident Roosevelt will Frankreich nach der Kriegserklärung Italiens verstärkt materiell unterstützen, lehnt jedoch einen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ab.«
    Die Tür ging auf und eine kleine Schar Schwestern kam herein, die Rollstühle vor sich herschoben. Immer noch, selbst in diesem Moment, versetzte mich der Anblick meiner Pflegemutter in Schwesternhaube in Erstaunen.
    Bis vor Kurzem hatte ich geglaubt, ihr Einsatz im Altenheim beschränke sich – wie auch der meine – auf Vorlesen, Liedersingen und freundliche Ablenkung am Krankenbett, aber in Wirklichkeit waren sie und all die anderen Freiwilligen als Hilfsschwestern bei sämtlichen Diensten eingesetzt. Selbst Mrs Kaminski, Witwe eines früheren Synagogenvorstehers, trug zweimal pro Woche Bettpfannen umher und ließ sich von herrischen Bestimmerschwestern herumkommandieren.
    »Hopp, in den Rollstuhl, meine Herren!«, rief eine. »Zeit für den Ausflug in den Keller!«
    »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Amanda und berührte leicht meine Wange, bevor sie Herrn Mittenbaum in den Rollstuhl half. Ich nickte schwach und folgte ihnen über einen

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