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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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blieben wir zu Hause und sprangen nur noch bei Fliegeralarm die paar Schritte durch den Garten zu unserem Shelter.
    Während der gesamten Zeit gab es keinen einzigen Tag, da einer von uns nicht genau gewusst hätte, wo die beiden anderen waren. Sich aufeinander verlassen zu können, war das einzig Verlässliche; es machte alles Übrige erträglich.
    Im April hatten wir die schwersten Angriffe auf London erlebt, die als »der Mittwoch« und »der Samstag« in die Stadtgeschichte eingehen sollten. »Den Mittwoch« verbrachte ich im Keller des Altenheims mit seinen dicken Mauern und seinem eigens eingerichteten kleinen Gasschutzraum. Doch drei Tage später waren Amanda, Matthew und ich zu Hause – woher hätten wir auch wissen sollen, dass dieser Schabbat »der Samstag« werden würde?
    Als der Fliegeralarm begann, hatte die übliche Routine ihren Lauf genommen: Gas und Wasser abstellen, Lichter löschen, Decken, Gasmasken, Thermoskannen, Erste-Hilfe-Koffer und die Box mit den wichtigsten Wertsachen unter den Arm klemmen und den Gänsemarsch in den Shelter antreten. Zum Schlafen war es zu früh, also setzten wir uns auf die beiden unteren Pritschen und spielten Karten.
    »Ist ja einiges in der Luft heute Nacht«, sagte Matthew irgendwann.
    Ich hatte mich, als er dies sagte, schon seit mehreren Minuten gefragt, wann endlich jemand eine Bemerkung machen würde. Das Donnern und Krachen von Einschlägen in unserer Nähe nahm gar kein Ende, der Boden bebte und zitterte und die lockere obere Pritsche ratterte derart, dass ich jeden Augenblick damit rechnete, dass mir das Bett auf den Kopf fallen würde.
    Die Hunde des Harrington Grove drehten vollkommen durch; ihr hysterisches Bellen und Heulen mischte sich mit dem aufgeregten Knattern der Flak zu einem wütenden, aber hilflosen Protest.
    »Gewonnen«, sagte Amanda, die Lesebrille auf der Nasenspitze, und warf ihre letzte Karte ab.
    »Das heißt nicht gewonnen, das heißt Mau-Mau«, rügte Matthew.
    Ein heftiger Windstoß fegte die Decke vom Eingang und wirbelte die Spielkarten auf, und in der nächsten Sekunde warfen wir uns auch schon zu Boden, als Steine und Erdklumpen mit schmerzhafter Wucht auf das Wellblechdach prasselten. Wenige Augenblicke später löste sich aus den Klängen der entfesselten Maschinerie, die über uns hereingebrochen war, ein Geräusch, das ich so nah noch in keiner der bisherigen Nächte gehört hatte: ein schwaches, menschliches Geräusch, ein Rufen, Schreien und Weinen.
    Matthew ging zum Eingang. »Oh nein«, sagte er, »es sind die Godfreys. Bleibt hier, rührt euch nicht vom Fleck!« Er griff nach seinem Stahlhelm und schlüpfte hinaus. Amanda und ich sahen uns erschrocken an. Stimmen drangen zu uns, ein Zurufen von Fragen und kurzen Antworten, und schon zog stechender Brandgeruch durch die Decke vor unserem Durchschlupf. Nun hielt uns nichts mehr, wir sprangen auf und schauten ebenfalls ins Freie.
    Der Qualm stieg sofort in Nase, Lunge und Augen. Im bläulich weißen Licht, das über dem Nachbargarten stand, bewegten sich schattenhafte Gestalten, das Weinen hatte aufgehört und jemand wankte zu meinem Erstaunen mitten durch den Zaun zwischen den Grundstücken auf uns zu – Mrs Godfrey mit Liza und Terry, ihren beiden Kleinkindern. Die drei waren über und über mit Schmutz bedeckt. »Ihr Mann schickt mich, können die Kleinen in Ihren Shelter?«, krächzte sie. Erst da merkte ich, dass es den Zaun zwischen uns nicht mehr gab.
    Während ich der Nachbarin und ihren Kindern in den Shelter half, hörte ich das lauter werdende Prasseln des Feuers, das im Haus der Godfreys offenbar schnell Nahrung fand. »Der Gartenschlauch«, sagte ich spontan zu Amanda, »ist er angeschlossen?«
    Ohne ein weiteres Wort kletterten wir beide ins Freie. Während ich den Schlauch ausrollte, lief Amanda ins Haus und drehte das Wasser wieder an. Natürlich reichte der Schlauch nicht bis zum Nachbarhaus, also brachte sie die Blecheimer mit, die in unserer Küche bereitstanden. Schnell bildete sich eine kleine Eimerkette – wir beide und Matthew, Mr Godfrey und andere Nachbarn –, während sich von der Straße her das Bimmeln des Feuerwehrwagens näherte. Direkt über uns brummte wieder ein Flugzeug und automatisch begann ich bis sechs zu zählen, die übliche Zahl der Einschläge, doch wir hatten Glück: Zweimal krachte es noch ganz in unserer Nähe, die restlichen Bomben fielen schon deutlich weiter entfernt.
    Nur im Haus explodierte etwas; ein Feuerwerk aus

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