Liverpool Street
Juden kein Beerdigungsessen gibt«, meinte ich.
»Du hättest seine Freunde gern ins Café Vienna eingeladen, habe ich Recht?« Amanda drückte meinen Arm.
»Das wäre passend«, stimmte ich zu. »Komisch, nicht? Wegen meiner Eltern bin ich vergebens hingegangen, aber am Ende hatte ich einen Großvater.«
»Was ist daran komisch? Du hast ein Talent dafür, dir eine Familie zusammenzulesen, das ist alles. Eine Familie für den Krieg, wie deine Freundin Hazel sagen würde.«
Nur für den Krieg?, dachte ich, aber sprach es nicht aus. Ein kurzer, angespannter Moment entstand zwischen uns wie so oft, wenn unsere Unterhaltung die Zukunft streifte. Die eine, nicht zu beantwortende Frage stand nun immer im Raum, die Frage, die mich schon lange verfolgte und – ich spürte es – zunehmend auch meine Pflegeeltern beschäftigte: Waren wir eine Familie?
Ich war dreizehn, würde noch diesen Winter vierzehn werden. Seit fast drei Jahren gehörte ich zu den Shepards – nicht allzu lange, wenn man es in Lebenszeit umrechnete, doch die Jahre davor schienen unendlich weit zurückzuliegen, verblassten von Tag zu Tag mehr. Zwar hatten meine Pflegeeltern von Anfang an keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass ich ausgeliehen war, also zurückgegeben werden würde. Mamu war immer präsent gewesen im Harrington Grove. Und doch war es Amanda, die mich geformt hatte. Ich schaute auf sie, redete wie sie, übernahm ihre Gewohnheiten. Ich war zu ihrer Tochter geworden.
Ihre knappe, verblüffend einfache Antwort, als ich ihr endlich von meiner Theorie erzählte, wirkte auf mich wie der letzte Beweis für etwas, was ich längst wusste. »Wir sind keine Blutsverwandten. Wenn wir getrennt voneinander umkommen, finde ich dich im Himmel womöglich nicht wieder«, setzte ich ihr auseinander, als sie sich wunderte, warum ich mich nicht – wie die anderen Mädchen meiner Klasse – den Girl Guides anschloss. Die Pfadfinderinnen beteiligten sich an den unterschiedlichsten kriegswichtigen Aufgaben. Doch ihnen beizutreten, hätte eine häufige Abwesenheit von zu Hause bedeutet.
Überrascht hatte sich Amanda meine Begründung angehört, schließlich auf ihre unnachahmliche Weise eine einzelne Augenbraue gehoben und erwidert: »Ich wünschte, du hättest mir früher davon erzählt. Dann hätte ich dich längst darauf aufmerksam machen können, dass du bei deiner Theorie etwas Entscheidendes übersehen hast.«
»Das wäre?«, fragte ich verdutzt.
»Ich werde dich finden!«, sagte Amanda schlicht.
Den Pfadfinderinnen anzugehören und meinen »Beitrag zum Sieg« zu leisten, machte mich stolz. Wir sammelten wiederverwertbares Altmaterial und Geldspenden für den »Spitfire Fund«, rollten Verbände aus alten Bettlaken und stellten in Zivilschutzübungen mit großem Vergnügen die »Opfer« dar. Unsere Übungen beinhalteten Erste Hilfe, die Erkennung von Giftgas und das Löschen von Brandbomben, und die Älteren von uns taten als Boten zwischen Home Guard und Luftschutzposten Dienst, da bei Angriffen häufig die Telefonverbindungen ausfielen. Im kommenden Januar würde ich ein Jahr dabei sein.
Auch Walter war nun endlich ein Freiwilliger. Den ganzen letzten Winter hatten die Deutschen uns nur wenige Atempausen gegönnt, und wenn, dann offenbar nur, um andere englische Städte anzugreifen oder sich noch tückischere Bomben auszudenken. Ende Dezember hatte die halbe City in Flammen gestanden, die Hilfsmannschaften waren völlig überfordert gewesen – und anschließend fragte niemand mehr danach, ob diejenigen, die sich als Freiwillige anboten, Briten waren! Walter unterstützte neben seiner Arbeit in der Munitionsfabrik die Hilfsfeuerwehr, was seiner Meinung nach ausgezeichnet zusammenpasste: »Tagsüber bastele ich Geschosse zusammen … und nachts helfe ich, ihre Auswirkungen zu beseitigen!«
Als im Januar die Fliegerangriffe für längere Zeit ausgeblieben waren, hatte das Elysée seinen Betrieb wieder aufgenommen und meine Pflegeeltern und ich unsere morgendlichen »Frühstückskonferenzen«: Kam Matthew nach der Abendvorstellung nach Hause oder hatte er Dienst bei der Home Guard? Standen Pfadfinder- und Schulaktivitäten an oder fuhr ich nachmittags ins Kino, um zu helfen und gleichzeitig unsere Einkäufe zu erledigen? Hatte Amanda Tag- oder Nachtdienst im Altenheim? Wenn sie Nachtdienst hatte, fuhr ich direkt vom Kino dorthin, um im geschützten Keller zu übernachten; kam sie am späten Nachmittag von der Arbeit,
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