Liverpool Street
Lichtern, die an Wunderkerzen erinnerten, zerstob durch die Fenster. »Raus! Raus!« Ich sah Männer ins Freie rennen, spürte einen gewaltigen Windstoß, dann brach bereits das obere Stockwerk ins Erdgeschoss. Der Wind zerblies den Qualm und für mehrere Sekunden wurde der Blick in die Nacht so kristallklar, dass auch dieses Bild sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt hat: das Innehalten der Eimerkette mitten in der Bewegung, Mr Godfrey im Widerschein der Flammen, die sein Zuhause vernichteten.
Und am Himmel über uns noch etwas: zwei Suchscheinwerfer, die sich überkreuzten und in ihrem Schnittpunkt ein einzelnes Flugzeug festhielten, das einen verzweifelten Sinkflug unternahm, dann steil wieder aufstieg, aber die Scheinwerfer ließen es nicht los. Wir hörten das Bellen der Flak, sahen ein kurzes Aufblitzen, dann kippte der Bomber auch schon zur Seite und trudelte heulend abwärts, begleitet von einem Schwanz aus dunklem Rauch.
Und ich, ich dachte nicht einen Augenblick daran, dass es Menschen waren, die da vor meinen Augen zu Tode kamen. Ich brüllte vor Freude, als das Flugzeug getroffen wurde, ich schrie: »Jawohl!«, als es in die Tiefe stürzte, und klatschte wild in die Hände, als es in einem Aufflackern von Licht zerschellte, so kurz und hell, als entzünde jemand ein Streichholz.
Erst der nächste Morgen enthüllte das ganze Ausmaß der Katastrophe im Harrington Grove. Zwischen aufragenden Mauerresten lagen Berge aus Schutt, Dachziegeln, Fensterrahmen und oft erstaunlich unbeschädigtem Inventar, Bäume waren schwarz verkohlt, Strommasten umgeknickt und eine noch immer funkenschlagende Leitung zuckte auf der Straße. Das Haus der Godfreys war wie leer gefegt, eine fensterlose, gespenstische Ruine. Durch den Druck der Detonation waren auch bei uns sämtliche Scheiben zerklirrt, wochenlang lebten wir mit Holzlatten vor den Fenstern und fanden noch ein halbes Jahr später Glassplitter in Teppichen und Tapeten. Doch ansonsten war unser Zuhause unversehrt.
Im Herbst 1940 hatten rund einhundert Familien im Harrington Grove gewohnt; im Mai 1941, der den vorläufig letzten Großangriff auf London sah, waren es noch vierundsechzig. In der City gehörte es inzwischen zum Großstadtflair, auf Ruinen zu blicken, wo man ging und stand. Doch das Radio spielte: »You get used to it!«
Der nahezu bombenlose Sommer unterhielt mit anderen Herausforderungen. Im zweiten Kriegsjahr wurde die Versorgung schon spürbar schwieriger und der Regierung blieb nichts anderes übrig, als Lebensmittel »flexibel zu rationieren«. Auch Kleidung bekam man nun auf Marken, wofür ein Punktesystem eingeführt wurde. Stundenlang planten und stückelten meine Pflegeeltern und ich und legten unsere jeweils sechsundsechzig Punkte wie Patiencen auf dem Tisch aus: zehn für einen Mantel, sechs für eine Hose, vier für eine Bluse, drei für einen Pullover, zwei für eine neue Unterhose. Amanda und Matthew gaben mir reichlich von ihren Punkten ab, da ich noch wuchs und mehr Kleidung brauchte.
Die Schlangen vor den Lebensmittelläden schienen umso länger zu werden, je weniger es drinnen zu kaufen gab. Jetzt zahlte es sich aus, einen eigenen Gemüsegarten zu haben! Amanda führte eine erbitterte Schlacht mit Raupen und Käfern um ihren Kohl und Kopfsalat, zog Kartoffeln, Erbsen, Bohnen, Karotten, Lauch und Suppenkräuter. Wochenends machten wir Ausflüge in den Wald, um Holunder und Schlehen zu sammeln, aus denen sich vitaminreicher Sirup gewinnen ließ, und als Tee rationiert wurde, pflückten wir Wildkräuter, die wir trockneten und kochten. »Shepard’s Delight«, unsere neue Sorte, war so überzeugend, dass bald darauf meine ganze Pfadfinderinneneinheit Kräuter sammelnd durch Feld und Wiesen streifte. Das Ergebnis verkauften wir vor der anglikanischen Kirche unter dem Motto »Tee für Waffen«. Wir kamen kaum dazu, unseren Stand aufzubauen, so schnell wurden uns die Teesäckchen aus der Hand gerissen!
Im Herbst schlugen Amanda, Matthew und ich uns »in die Pilze«, wozu man an regnerischen Tagen im Morgengrauen aufstehen und mit dem Zug hinaus nach Surrey fahren musste. Da viele andere dieselbe Idee hatten, kam es nämlich hauptsächlich darauf an, unter den Ersten zu sein. Es gab ein kleines Gasthaus auf dem Weg, in dem wir nach getaner Arbeit einkehrten und uns ein spätes Frühstück gönnten, den Rucksack voller Wiesenchampignons, Schwämme oder Steinpilze, auf die die Wirtin begehrliche Blicke warf.
»Wenn Sie mir
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