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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aber gleich wieder weg, damit sie nichts merken! Hier, warte …«
    Christine griff in ihren Ranzen, holte ein Paar Schuhe hervor und einen kleinen Beutel, den ich als ihre Butterbrottasche wiedererkannte. Beides schob sie ängstlich zu mir hin, sprungbereit im Eingang hockend, als ob sie ein gefährliches Tier fütterte. Zum Schluss zog sie ihren Mantel aus und legte ihn vor mich auf den Boden. Sie trug einen zweiten Mantel darunter. Erst da begriff ich, dass sie mir helfen wollte.
    »Wo sind meine Eltern?«, flüsterte ich.
    »Ich weiß es nicht. Deinen Vater haben sie mitgenommen. Ziska, was hat er denn getan?«
    Ihre Stimme klang vollkommen verängstigt. Ich begann zu weinen. Nie würde ich über das sprechen können, was ich in der letzten Nacht gesehen hatte! Nie und mit niemandem.
    »Deine Mutter ist vielleicht noch in der Wohnung«, sagte Christine wenig überzeugend.
    »Könntest du mal nachsehen?«, stammelte ich.
    Christine zog sich ein kleines Stück zurück. »Das trau ich mich nicht … aber ich bringe dir zu essen und eine Decke, gleich wenn ich aus der Schule komme!«
    Sie kroch rückwärts, lächelte noch einmal aufmunternd und war verschwunden. Ich griff nach den Schuhen und streifte sie mit Mühe über meine blau gefrorenen Füße, zog den Mantel an. Es dauerte eine Weile, bis er meinen ausgekühlten Körper wärmte. Im Beutel waren zwei Brote und ein Apfel. Ich schlang alles hastig herunter, biss abwechselnd mal in das eine, mal in das andere. Käse, Wurst, der säuerliche Geschmack des Obstes – meine Zunge konnte noch alles unterscheiden. Ich war am Leben.
    Ich muss etwa bis zum Mittag in meinem Versteck ausgeharrt haben. Einmal kam jemand und brachte den Müll heraus; er oder sie entdeckte mich nicht, setzte mir aber einen zunehmend beunruhigenden Gedanken in den Kopf: An welchem Tag wurden eigentlich die Tonnen geleert? Entsetzt stellte ich mir vor, wie eine Tonne nach der anderen aus dem Verschlag gezerrt wurde, während ich wie eine in die Enge getriebene Ratte an der Wand entlangschoss.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto panischer wurde ich. Hatte ich da gerade ein Rumpeln gehört? War das schon die Müllabfuhr? Schließlich hielt ich es nicht länger aus, zog Christines Mantel fester um meine Schultern und kroch ins Freie. Ich würde über die Mauer zurückklettern, in unser Haus schleichen und herausfinden, ob Mamu in der Wohnung war!
    Doch kaum war ich draußen, wurde mir klar, dass ich es nicht schaffen würde: Meine Knie schlotterten, ob vor Angst oder von dem stundenlangen unbeweglichen Hocken in der Kälte, konnte ich nicht sagen. Die Mauer, die ich schon so oft überklettert hatte, war unüberwindlich. Es würde mir nichts anderes übrig bleiben, als durch das Nachbarhaus auf die Straße und von dort in unser Haus zu laufen. Hoffentlich bemerkte niemand, dass ich unter dem Mantel einen Schlafanzug trug!
    Unsere Haustür stand offen, ich hatte Glück. Christines Wanderschuhe, die mir eine Nummer zu groß waren, machten auf der Treppe zwar mehr Lärm, als mir lieb war, aber ich konnte nichts dagegen tun. Vom Knie abwärts hingen die Beine wie Gummi an mir herab und schlugen mit den Fußspitzen gegen die Stufen.
    Und als ob ich es geahnt hätte, ging im ersten Stock die Wohnungstür auf. Die Bergmann, ausgerechnet jetzt! Doch anstatt mich wie gewöhnlich zu beschimpfen, öffnete sie nur einen Spalt, sah mich an, als ob ich ein Gespenst wäre … und warf hastig die Tür wieder zu! Augenblicklich war mir klar, dass mich oben etwas Schreckliches erwartete.
    Die Treppenstufen hinauf zu unserer Wohnung schienen höher und höher zu werden. Auf den letzten Metern musste ich mich am Geländer hochziehen, den Blick unverwandt auf die kaputt getretene Wohnungstür gerichtet, die lose an einem der Scharniere hing.
    »Mamu?«, flüsterte ich in den offenen Spalt hinein. Keine Antwort. Endlich überwand ich meine Angst und streckte die Hand aus, um die Tür aufzuschieben.
    Das Nächste, was ich weiß, ist dass ich mitten im Flur stand. Dass es keine Welt mehr gab, keinen einzigen Laut außer dem Knirschen der Scherben unter meinen Schuhen. Dass ich Schritt für Schritt durch unsere Räume ging und nichts fühlte, gar nichts, nicht einmal ein Erschrecken. Ich nahm den Schaden auf, sah mir jedes einzelne Zimmer genau an, aber diese geschändete Wohnung war schon nicht mehr mein Zuhause.
    Papas Arbeitszimmer … ein Chaos von zerfetzten Büchern und Papieren, der Schreibtisch

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