Liverpool Street
worden sei anstelle eines Kindes aus unserem Haus, das die Mumps bekommen habe!
»Es ist einfach nur gemein«, entfuhr es Bekka. Ihre mühsam aufgesetzte Gute-Verlierer-Miene stürzte ein, die Augen blitzten vor Wut. »Thomas ist derjenige von uns, der eigentlich gar nicht gehen will! Wieso haben sie ihn genommen? Wegen seiner Klavierspielerei? Mist, ich hätte ihnen sagen sollen, wie gut ich zeichnen kann!«
Sie trat gegen den Papierkorb, dessen Inhalt sich über den Fußboden entleerte. Ich hockte wie ein Häuflein Elend neben ihr und erstickte an dem Knäuel von Ausreden und Lügen, die schon zwischen meinen Lippen warteten. Zum ersten Mal spürte ich, wie viele Möglichkeiten es gab, Menschen voneinander zu trennen, und dass die Nazis Bekka und mich auf eine Weise trennen würden, mit der ich niemals gerechnet hätte.
Eine Idee durchzuckte mich: Und wenn ich ihr meinen Platz anbiete …?
Ich weiß, die alte Ziska hätte es getan. Sie hätte niemanden verraten, die beste Freundin schon gar nicht, egal um welchen Preis.
Die neue Ziska dachte an sich selbst. Die neue Ziska hatte eine feste Stimme, als sie antwortete: »Ich habe auch einen Platz, Bekka, ich fahre am Donnerstag. Aber ich verspreche dir, dass ich in England versuche, eine Familie für dich zu finden, damit du nachkommen kannst.«
Und die neue Ziska stand keine fünf Minuten später auf der Straße und dachte: Na, dann eben nicht, du Ziege. Wenn du mir nicht gönnst, dass ich fahre, dass ich meine Eltern raushole, so wie du deine rausholen wolltest … wenn du mir etwas vorwirfst, wofür ich gar nichts kann … wenn deine Abschiedsworte an mich sind, dass ich dir den Platz weggenommen habe … dann kannst du gar nicht meine Freundin sein!
5
Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt.
Ich hatte mich am Zugfenster stehen sehen, die Hand nach meiner Mutter ausgestreckt, während sie neben dem fahrenden Zug herlief und meinen Namen schrie. Auch ich schrie etwas, wollte ihr unbedingt noch etwas mitteilen, aber kein Wort kam über meine Lippen. Ich sah sie einsam am Bahnsteig stehen bleiben und mich nach England abfahren, ohne Mamu gesagt zu haben, wie sehr ich sie liebte und dass ich ihr verzieh, mich fortgeschickt zu haben.
Jede Nacht wachte ich von diesem Albtraum auf und beschloss: Morgen! Morgen sagst du es ihr! Aber am nächsten Tag war alles wie in meinem Traum und ich wusste nicht, wie ich die Worte herausbringen sollte.
Es gab ja auch so viel Wichtigeres zu erledigen. Vorgedruckte Packlisten ausfüllen – 2 Hosen, 2 Röcke, 3 Pullover, 3 Blusen, 1 Mantel, 2 Pyjamas, 6 Unterhosen, 6 P. Strümpfe, 2 P. Schuhe – und in die Zeile »Name des Auswanderers« mit Herzklopfen Franziska Sara Mangold eintragen. Meinen Kinderausweis mit einem großen roten J für »Jude« stempeln lassen.
An meine Gasteltern schreiben. Ihre Adresse hatten wir am Tag nach der Zusage bekommen. Sie hießen Marcus und Hermione Winterbottom und lebten in London. Mamu schrieb einen viel längeren Brief als ich, Onkel Erik übersetzte ins Englische. Ich saugte an meinem Stift, aber mir fiel nichts ein. Im Hintergrund diskutierten sie über dem Wörterbuch.
»Sehr geehrte Mr und Mrs Winterbottom«, schrieb ich in meiner schönsten Schrift, »danke, dass ich zu Ihnen kommen darf. Ich komme am Samstag an. Ihre Ziska.«
»Das wissen sie doch schon«, meinte Onkel Erik.
Zum Friseur gehen, ein letztes Mal bei Karstadt am Hermannplatz, wo die Frisierstühle für Kinder hölzerne Pferde, Elefanten und Löwen waren. Eis essen nebenan bei Herrn Cohn, der immer noch da war, der selbst am Tag nach der Pogromnacht seinen Laden aufgemacht und jüdischen Kindern Eis verkauft hatte. Briefpapier und ein kleines deutsch-englisches Wörterbuch besorgen. Den Verwandten Adieu sagen. Versprechen, Pflegeeltern für Evchen und Betti zu finden, aber so, dass sie zusammenblieben.
Die ganze Zeit Angst haben vor dem Abschied am Bahnhof. Froh sein, als es hieß: »Bitte verabschieden Sie sich von Ihren Kindern in einem Saal im jüdischen Gemeindehaus. Die Kinder werden mit dem Bus an den Bahnhof gefahren, damit es nicht zur Störung des normalen Betriebes kommt.«
Denken: Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt.
Der Lärm im Saal war ohrenbetäubend. Sie hatten unsere Abreise auf den späten Abend gelegt, wohl um der Öffentlichkeit den Anblick zu ersparen, der sich Mamu und mir bot, als wir um kurz nach neun als eine der letzten Familien eintrafen. Ich warf einen Blick in den
Weitere Kostenlose Bücher