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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Saal und sagte: »Bitte, Mamu, wir heulen nicht! Sonst fahre ich gleich wieder nach Hause.«
    »Es gibt ja auch gar keinen Grund zu heulen«, erwiderte meine Mutter mit fester Stimme. »Wir sind doch dankbar, dass du den Platz bekommen hast. Was glaubst du, wie viele Kinder jetzt gern an deiner Stelle wären!«
    Eins kenne ich, dachte ich. Ich hatte Mamu nicht erzählt, wie Bekka und ich auseinandergegangen waren; es war so schrecklich, dass ich lieber gleich wieder aufhörte, daran zu denken. »Glaubst du, Onkel Erik hält Wort und winkt mir am Bahnhof Wannsee?«, fragte ich rasch.
    »Worauf du dich verlassen kannst«, meinte Mamu lächelnd.
    Wir stellten uns in eine Ecke und taten, als ob ich ins Ferienlager fahren würde. Schon begann jemand, alphabetisch unsere Namen aufzurufen, worauf das jeweilige Kind ein Pappschild mit einer Nummer umgehängt bekam, seinen Koffer nahm und sich in die Nähe des Ausgangs zu denen begab, die dort schon warteten. Buchstabe C, Buchstabe D. Die Luft war von Angst erfüllt. Eltern, die auf weinende Kinder einredeten oder selbst in Tränen ausbrachen, Aufregung, Anspannung.
    Ich merkte, wie ich am ganzen Körper zu zittern begann. »Vielleicht bekommen wir auf dem Schiff Kabinen mit einem Steward«, sagte ich. »Und wenn wir ankommen, holen uns rote Doppeldeckerbusse ab.«
    »Hauptsache, du denkst daran, dass wir bald nachkommen!«, sagte Mamu und umklammerte meine Hand. Ihr Gesicht war kalkweiß geworden. Wahrscheinlich war das dumme Ehepaar direkt neben uns schuld. Beide Eltern knieten vor einem etwa achtjährigen Mädchen, hielten seine Hände und gaben ihm die Worte mit auf die Reise: »Du fängst jetzt ein neues Leben an, Jette! Sei schön brav und vergiss uns nicht, hörst du?«
    Die arme Jette! Die taten ja so, als ob sie sich nie wiedersehen würden! Ich hatte richtig Wut auf diese Eltern und sagte zu Mamu: »Komm, wir stellen uns woandershin!«
    »Warte! Ich habe noch etwas für dich.« Meine Mutter griff in ihre Manteltasche und zog eine silberne Kette hervor. Ein kleines Kreuz hing daran. »Das habe ich zu meiner Konfirmation bekommen. Es soll dich beschützen, bis wir uns wiedersehen!«
    Sie öffnete den Verschluss und trat hinter mich, strich zärtlich meine Haare im Nacken beiseite, obwohl die eigentlich kurz genug waren, um dem Kettchen beim Umlegen nicht im Wege zu sein. »Ich werde es nie abnehmen!«, schwor ich. »Selbst zum Waschen nicht!«
    Buchstabe E. Wilde Schreie einer Frau, weil der Name ihres Kindes nicht aufgerufen worden war. »Derschlach! Derschlach!«, hallte es durch den Saal. Stand das Kind etwa nicht auf der Liste? Großes Palaver, dann durfte der Junge doch mit zu den anderen gehen.
    Zum Buchstaben F gehörten nur zwei Kinder, fast sofort waren wir beim G. Jetzt hielten wir uns nur noch an den Händen und warteten. Mamus Hände waren eiskalt.
    Buchstabe L. Thomas Israel Liebich. Auf dem Weg zum Ausgang biss er die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenknochen hüpften. War Bekka zum Abschied mitgekommen? Ich spürte einen kurzen, scharfen Schmerz und auch Hoffnung: Vielleicht konnten wir uns doch noch einmal sehen! Aber ich entdeckte nur das sanfte, runde Gesicht ihrer Mutter.
    »Ich muss mich noch von Liebichs verabschieden!«, rief ich erschrocken und riss mich los.
    »Ziska!«, schrie Mamu auf und kam hinter mir her.
    Ich sah Frau Liebich die Arme ausbreiten, als ich auf sie zurannte … sie war mir nicht böse! Und noch bevor ich sie erreicht hatte, merkte ich, wie das Unfassbare, das Unverzeihliche geschah. Ich brach in Tränen aus. »Es tut mir so leid!«, schluchzte ich an ihrem Hals.
    »Franziska Sara Mangold!«
    »Ziska, komm, du bist dran!«
    Mamu war hinter mir und zerrte eine Spur zu grob an meinen Armen. Ich ließ die Mutter meiner Freundin los, jemand streifte mir das Schild mit meiner Nummer über den Kopf. Verzweifelt schlug ich die fremde Hand weg, die mich zu den anderen Kindern schieben wollte, und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören. Mir war klar, dass ich Mamu soeben furchtbar wehgetan haben musste; ich konnte nicht gehen, bevor ich ihr nicht alles erklärt hatte! Aber das Einzige, was aus meinem Mund kam, war ein lautes, peinliches Jammern.
    »Gott segne dich, Ziskele!«, flüsterte meine Mutter, legte noch einmal kurz den Arm um mich und drückte mir den Koffer in die Hand. Ich stand bei den anderen an der Tür. Buchstabe W war der letzte. Kalte Nachtluft wehte uns entgegen, zwei Busse warteten schon.
    Es war viel

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