Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte.
    Deutschland schlief. Hinter dem Zugfenster lag Dunkelheit, nachdem wir den Großraum Berlin verlassen hatten, Dunkelheit und das gleichmäßige Klack-klack, mit dem die Räder die hölzernen Bahnschwellen passierten. Es bedeutete Schrecken und Trost zugleich, trennte uns von unseren Eltern und brachte uns dennoch in Sicherheit. Einen größeren Widerspruch konnte es nicht geben, und den meisten Kindern im Zug wird es gegangen sein wie mir: Wir konnten nicht begreifen, was geschah. Dass es uns geschah. Dass wir es wirklich erlebten.
    Ich sah mich im Abteil sitzen, wo sich aus der unüberschaubaren Menge der Kinder einzelne Gesichter lösten. Greta, Luise, Vera, Fanny, Gabi, Marion und Jette mit den unmöglichen Eltern. Wir Jüngeren lächelten einander schüchtern zu, Greta beachtete uns nicht weiter und begann sofort einen Brief zu schreiben. Sie hatte sich zur Abteilältesten erklärt und mir als Erstes den Fensterplatz abgenommen, auf den ich während des Ansturms auf den Zug eher zufällig gepurzelt war. Ich hatte einen flüchtigen, reflexartigen Anflug von Hass auf dieses große Mädchen verspürt, eine Jüdin, die eine andere von ihrem Platz vertrieb, aber eigentlich war mir alles egal. Ich krümmte mich auf dem Platz neben der Tür zusammen, möglichst weit von ihr entfernt. Mein Magen spielte verrückt. Ich hatte die falsche Mutter umarmt. Konnte man noch bitterer versagen?
    Auf dem Gang war Marita, die junge Betreuerin unseres Waggons. Sie hatte zwei Kinder an der Hand, die noch keinen Platz gefunden hatten. Unsere Abteiltür stand offen, ich saß auf Augenhöhe mit den ängstlichen Gesichtern der ganz Kleinen.
    »Sieh mal, Tessa, hier ist noch ein Platz frei, hier kannst du sitzen.«
    »Und wo sitzt meine Mami?«
    Niemand antwortete, ich schob die Tür hinter der Kleinen zu. Drinnen nahm Fanny sie sofort auf den Schoß, Luise holte einen Teddy aus ihrem Rucksack und verstellte die Stimme. »Mensch, das ist ja die Tessa! Die ist ja mutig, die fährt schon ganz alleine Zug!«
    Das Kind lachte und streckte die Hand nach dem Teddy aus. Wir anderen, selbst Greta, lachten mit, damit wir den Pfiff nicht hören mussten, mit dem der Bahnhofsvorsteher uns davonschickte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, reckte nur Jette den Hals und spähte eifrig aus dem Fenster; vielleicht hatte sie vergessen, dass unsere Eltern nicht zum Bahnsteig hatten mitkommen dürfen.
    Wir Übrigen blickten erst hinaus, als der Bahnhof schon hinter uns lag. Ein letztes Mal zogen die Häuser und vertrauten Wahrzeichen, die erleuchteten Straßen unserer Stadt an uns vorüber, glitzerte das Wasser der Spree neben uns. In den Abteilen erloschen die Lichter und wir warteten vergebens darauf, dass sie wieder angingen. Niemand sollte den Zug bemerken, der mitten in der Nacht Hunderte von Kindern aus Deutschland herausbrachte.
    Irgendwo dort draußen waren unsere Eltern jetzt auf dem Weg nach Hause – ohne uns. Ich hatte ein blitzartiges, sehr lebendiges, kaum zu ertragendes Bild von meiner Mutter allein in der U-Bahn. Es war eines dieser Bilder, die man sofort aus dem Kopf vertreiben muss.
    »Kann ich in Wannsee mal kurz ans Fenster?«, sagte ich höflich zu Greta. »Mein Onkel Erik wird am Bahnhof stehen und winken.«
    »Aber er wird dich bestimmt gar nicht sehen, weil wir nur durchfahren.«
    »Das weiß er. Er wird trotzdem da sein, das hat er versprochen.«
    »Dann winken wir alle!« Entschlossen schlüpfte Vera an mir vorbei aus dem Abteil und ich hörte sie zu den Kindern nebenan sagen: »In Wannsee steht jemand, der uns winkt. Macht ihr mit?«
    Der verdunkelte Zug trug uns alle davon – rund hundertzwanzig ängstliche und neugierige, traurige und aufgeregte Berliner Kinder, zu denen in Hamburg noch einmal ebenso viele stoßen sollten. Deutschland schlief, niemand bemerkte unsere Fahrt, niemand würde unser Fehlen bemerken. Der Einzige, der uns nachwinkte, war ein dicker, gutmütiger, glatzköpfiger Mann am Bahnhof Wannsee, der sich unter eine Laterne gestellt hatte, damit ich ihn würde sehen können, und der völlig überwältigt war, als an jedem einzelnen der vorbeirollenden Zugfenster Kinder erschienen, die sich hinauslehnten, die Arme schwenkten und ihm zuriefen: »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, Onkel Erik!«
    Ich konnte nicht behaupten, dass ich die neue Ziska besonders mochte. Es irritierte mich, wie sie es immer wieder fertigbrachte, Dinge zu tun, die dem, was ich eigentlich

Weitere Kostenlose Bücher