Liverpool Street
ihnen in den Weg und stotterte den Spruch, den ich mir mithilfe meines Wörterbuchs zurechtgelegt hatte: »Excuse me, you look one child?«
Der Herr verzog keine Miene, griff in seine Tasche und gab mir ein Geldstück. Ohne auch nur stehen zu bleiben, ging das Paar an mir vorbei durch das Tor.
Wer stehen blieb, waren die älteren Damen. Sie sahen mich streng und irgendwie belästigt an, obwohl ich sie gar nicht angesprochen hatte, und wechselten einige Worte, aus denen ich eins heraushörte, das ich kannte: committee. Dann marschierten auch sie hinein und mir war klar, dass ich Ärger bekommen würde.
Verstohlen schielte ich um den Torpfosten herum. Diesmal brauchte ich nicht lange zu warten. Keine zwei Minuten später kamen die beiden Damen vom Flüchtlingskomitee wieder aus dem Haus, Frau Werner in ihrer Mitte eingekeilt, und redeten mit großer Autorität auf sie ein. Selbst auf Entfernung konnte ich erkennen, dass Frau Werner, als sie gleich darauf durch den Park auf mich zurannte, einen äußerst verärgerten Eindruck machte.
Survival Plan! Ich tauchte hinter das nächstbeste Auto, wo meine auf Flucht und Verstecken wohltrainierten grauen Zellen sofort verlässlich zu rattern begannen. Wenn es mir gelang, Frau Werner vom Tor wegzulocken, konnte ich vielleicht unbemerkt in den Park zurückschlüpfen und tun, als wäre ich nie fort gewesen!
Ich drehte mich in der Hocke um und rannte gebückt um die Autos herum, sowohl das Tor als auch Frau Werner im Blick, die angefangen hatte, unter die Fahrzeuge zu schauen. Das war an sich nicht dumm, aber da ich selbstverständlich nur hinter Autoreifen in Deckung ging, hatte sie nicht den Hauch einer Chance, mich zu erwischen. Umso verwirrter war ich, als mein geordneter Rückzug mit einem lauten Gong! ein jähes und schmerzhaftes Ende nahm.
Womit ich nämlich überhaupt nicht gerechnet hatte, war Gefahr aus den Autos. Mein Schicksal ereilte mich in Form einer Beifahrertür, die mit Schwung an eben der Stelle aufflog, an der ich gerade meinen Kopf vorbeitrug. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich bäuchlings auf dem Asphalt lag, abwechselnd tiefste Nacht und zwei Paar großer Füße in schwarzen Schuhen sah und mich fragte, ob das Vogelzwitschern echt war.
Wie sich später herausstellte, hatten die Insassen des alten Rovers bei abgestelltem Motor im Auto gesessen und darüber diskutiert, ob sie nach einem jüngeren oder älteren Jungen Ausschau halten sollten. Sie hatten sich noch keineswegs geeinigt, als sie ausstiegen und die Entdeckung machten, dass sie soeben ein Mädchen niedergestreckt hatten. Vorsichtige Hände drehten mich auf den Rücken, ich schlug die Augen auf und blickte in das freundliche, besorgte Gesicht eines Mannes in Papas Alter, der einen großen schwarzen Hut trug.
»You look child?«, krächzte ich.
Ein zweites Gesicht tauchte über mir auf und mir wurde klar, dass mein Kopf einen ernsthaften Schaden davongetragen haben musste. So schöne Jungen gab es überhaupt nicht. Er mochte sechzehn oder siebzehn sein, hatte eine gebräunte Haut, dunkles Haar und leuchtend grüne Augen, die an einer edel gekrümmten Nase vorbei auf mich hinunterschauten. Ich blinzelte und blinzelte, aber er war immer noch da, er war tatsächlich echt!
»Ziska, um Gottes willen!«
Schon drang ein Schreckensschrei an mein Ohr und ich sah meine beiden Engländer nach rechts und links aus dem Blickfeld fliegen, als Frau Werner sich zwischen sie drängte und den Platz über mir einnahm. »Haben sie dich angefahren? Bist du verletzt?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Engländer diskutierten. »Nein, sie kann sich nicht aufsetzen«, sagte Frau Werner gereizt auf Deutsch. »Sie bleibt genau so liegen, bis der Arzt kommt.«
»Brauch keinen Arzt«, murmelte ich, hievte mich in sitzende Stellung und lehnte mich gegen den Autoreifen. In der Mitte meiner Stirn schien sich etwas direkt durch den Schädel zu arbeiten; ich fasste vorsichtig dorthin und ertastete mit sinkendem Mut die schon fast hühnereigroße Beule. So würde mich heute bestimmt niemand mehr aussuchen!
Der ältere Engländer sprach einen Satz aus Lektion II unseres Englisch-Lehrbuchs: »I am a doctor.« Er ging vor mir in die Hocke, tastete meinen Kopf ab und ließ seinen Zeigefinger von rechts nach links vor mir herfahren. Zum Schluss schob er meine Augenlider nach oben und besichtigte zufrieden den argwöhnischen Blick, der ihm darunter begegnete. »She’s much better already«, stellte er fest.
»You look
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