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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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child?«, fragte ich zweifelnd.
    Frau Werner, ihrer akuten Sorge um mich enthoben, erinnerte sich mit einem Mal wieder daran, warum sie mich eigentlich über die Straße verfolgt hatte. Verärgert erhob sie sich, stemmte beide Arme in die Hüften und blickte wütend auf mich herab, während sie die Engländer offenbar um Verzeihung dafür bat, dass ich sie belästigt hatte.
    Die beiden tauschten einen Blick.
    »Well«, sagte der Ältere bedächtig, »we were indeed … looking for a child.«
    Dr. Shepard und sein Sohn Gary müssen sich sehr gewundert haben, dass ich mir auf der Fahrt durch London ständig den Hals nach Straßenschildern verdrehte. Ich merkte, wie sie dauernd zu mir nach hinten blickten, den Kopf schüttelten und sich über meinen Enthusiasmus freuten, und beschloss, ihnen lieber nicht zu sagen, dass ich lediglich nach der Tottenham Court Road Ausschau hielt, um so schnell wie möglich Dinge in die Wege zu leiten, die dazu führen würden, dass ich wieder bei ihnen verschwand.
    Gemessen an der Tatsache, dass wir fast kein Wort miteinander gewechselt hatten, war es unglaublich, wie schnell wir uns einig geworden waren. Bis ich im Schlafsaal meine Sachen gepackt hatte, hatten sie bereits alle notwendigen Formalitäten erledigt, und kaum dass ich Frau Werner zum Abschied die Hand gereicht hatte, folgte ich ihnen auch schon zum Tor, begleitet von den sehnsüchtigen Blicken der anderen Kinder. Ich war nicht einmal dazu gekommen, mich in den Arm zu zwicken, um festzustellen, ob ich vielleicht träumte.
    Erst als ich durch London gefahren wurde, sortierte sich alles wieder: Mein Ziel war nicht, eine englische Familie zu finden. Mein Ziel war, meine eigene Familie nach England zu holen! Die netten Shepards da vorne im Auto wussten es nur noch nicht.
    Aber wo war die Tottenham Court Road? Es dauerte eine Weile, bis ich überhaupt ein Straßenschild entdeckte. Als ich schon fürchtete, es gäbe gar keine, sah ich, dass sie an Hauswänden anstelle von Pfählen angebracht waren. Vielleicht sollte das Platz sparen in dem Gewimmel von Autos und Taxis, Bussen und Pferdekutschen, zwischen denen sich Trauben todesmutiger Fußgänger mitten in den Verkehr warfen. Wie sie sich zwischen Fahrzeugen über die Straße trauten, die allesamt auf der falschen Seite fuhren, war ein Geheimnis, das sich mir hoffentlich noch erschließen würde.
    Straßenbahnen sah ich nicht, dafür die berühmten roten Doppeldeckerbusse, die sich in so großer Zahl durch die Straßen schoben, dass London bunt, eng und vollkommen chaotisch wirkte. Als wir an einer Kreuzung hielten, schrie zu meinem Entsetzen ein kleiner Junge gellend in unser Fenster, aber er war nicht in Gefahr, er steckte nur eine Zeitung hindurch und bekam eine Münze dafür. Ich sah ihn eilig weiterlaufen, dem nächsten Auto entgegen, sein kleines Bündel Zeitungen über dem Arm.
    Bald, für meine Begriffe zu bald, verließen wir die lebhafte Innenstadt und landeten weit draußen in ruhigen Vorstadtstraßen, in denen sich völlig identische Häuser aneinanderreihten. Es gab eine Straße mit zweistöckigen weißen Doppelhäusern, in einer anderen waren sie dreistöckig und braun, eine dritte schien aus einem einzigen, endlos langen Gebäude zu bestehen, das sich sogar um eine Wegbiegung wand. Als wir endlich hielten, sah ich nichts als Türmchen auf dem Dach und winzige Vorgärten. Der Abstand zwischen den dazugehörigen Häusern war so gering, dass ein Erwachsener, wenn er sich mit ausgestreckten Armen dazwischenstellte, beide Mauern würde berühren können.
    »Our house«, sagte Gary stolz. Ich nickte höflich und legte, bevor ich hinter den beiden durchs Gartentor trat, eine Pause von etwa zwei Sekunden ein, um mein Interesse an einer braunroten Ziegelsteinfassade zu bekunden, die genauso aussah wie die nebenan.
    Zur Haustür führte eine niedrige Stufe und der gesamte Eingangsbereich lag unter einem kleinen Baldachin. Das sah hübsch aus, erinnerte ein wenig an ein Spielzeughaus, doch die größte Überraschung war der klitzekleine Briefkasten, der im Türrahmen angebracht war! Das Glasröhrchen, kaum zehn Zentimeter lang, war über und über mit silbernen Ornamenten verziert und jemand hatte offenbar während der Abwesenheit der Shepards ein winziges Stück Papier mit einer Nachricht hineingerollt. Aber anstatt sie herauszunehmen und zu lesen, legten erst Dr. Shepard und dann Gary im Vorbeigehen die Finger der rechten Hand daran und führten sie anschließend an die

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