Liverpool Street
Lippen.
Ich war ergriffen. Die Engländer küssten ihre Post! Auf der Stelle schloss ich das ganze Volk ins Herz. Welch respektvolle und angemessene Geste gegenüber denen, die an uns dachten!
Im Haus war es warm und roch gut, eine heimelige Mischung aus Kohleofen, frisch gebackenem Brot und Gewürzen, von denen einige im Eingang in einer Vase standen. Eine schmale, steile Treppe führte in den ersten Stock hinauf; gleich daneben lag das Wohnzimmer, aber ich hatte keine Gelegenheit, mehr als einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen. Kaum waren wir eingetreten, kam auch schon eine kleine rundliche Frau auf uns zu und wischte sich strahlend die Hände an der Küchenschürze ab.
Ich mochte sie auf der Stelle, obwohl ich sie mir nicht so alt vorgestellt hatte. »Good afternoon, Mrs Shepard«, sagte ich wohlerzogen, wie man es mir beigebracht hatte.
Dr. Shepard und Gary brachen in schallendes Gelächter aus und die kleine runde Dame machte ein würdevolles, verlegenes Gesicht. Sie war Millie, das Mädchen.
»And this is Francesca«, sagte Dr. Shepard.
Wer?, dachte ich verblüfft. Auch Millie sah irgendwie überrascht aus. »That a boy?«, fragte sie.
Die Shepards schienen eine heiter aufgelegte Familie zu sein, denn sie lachten schon wieder und sagten »no«, worauf Millie voll Zorn und Abscheu auf meine Beule zeigte und erklärte: »Bloody Nazis.«
Mit einem Wortschwall, aus dem ich das von mir nicht sehr geschätzte Wort tea heraushörte, eilte sie durch den engen Flur in die Küche zurück und Dr. Shepard bemerkte etwas zu Gary, worin mein Name vorkam. Da Gary anschließend »Follow me« zu mir sagte, kombinierte ich, dass sein Vater ihn aufgefordert hatte, mir mein Zimmer zu zeigen.
Na also, dachte ich erleichtert. Es geht doch mit dem Englisch!
Ich folgte Gary die Treppe hinauf, fiel aber schon bald ein wenig zurück, weil der ganze Weg nach oben behängt war mit gerahmten Fotos. Sie zeigten Gary als Baby, als Kleinkind, Gary in Schuluniform, Gary mit Kippa, einem bestickten Gebetsmantel und einem dicken Buch in der Hand – Gary war eindeutig der Mittelpunkt dieses Hauses, dennoch kam er mir gänzlich uneingebildet vor. Wahrscheinlich war es völlig selbstverständlich für ihn, der ganze Stolz seiner Eltern zu sein.
»Kommst du?«, rief er auf Englisch aus einem der Zimmer und ich wollte gerade zwei Stufen auf einmal nehmen, um ihn nicht warten zu lassen, als ich oben am Treppenabsatz noch ein Bild entdeckte.
Es war eines der Bilder, vor denen man nicht anders kann als stehen zu bleiben. Der etwa fünfjährige Gary stand an einen Stuhl gelehnt, ein nachdenkliches, fast in sich versunkenes Lächeln auf dem Gesicht, ein kluges Lächeln, das für einen so kleinen Jungen ganz und gar außergewöhnlich war und das seine exakte Entsprechung fand in dem Gesicht neben ihm. Das musste seine Mutter sein, sie hatte dieselben Augen, dieselbe Nase, dasselbe ebenmäßig schöne, von dunklem Haar eingerahmte Gesicht. Ihre Hand, die aus einer weißen Spitzenbluse schaute, lag auf Garys Arm, und mit einem merkwürdigen kleinen Schauer im Nacken war mir, als könne ich eine zarte Berührung an meinem eigenen Arm spüren.
»Francesca?« Gary stand mit fragendem, unverkennbar enttäuschtem Gesicht in einer Tür und ich beeilte mich, ihm zu folgen.
Mein zukünftiges Zimmer ging auf den Vorgarten hinaus. Es hatte hellblau gestrichene Wände, die in Türrahmenhöhe mit einer geblümten Zierleiste versehen waren, und einen schmalen, in die Wand eingelassenen Kleiderschrank. Bett, Bücherregal und ein Kinderschreibtisch vor dem Fenster füllten den kleinen Raum vollständig aus und es konnte kein Zweifel bestehen, dass die Shepards einen Jungen erwartet hatten: Bilder von Schiffen und Flugzeugen schmückten die Wände und das Regal stand voller Holzautos und Modellschiffchen.
»Meine alten Sachen«, erklärte Gary. Er sprach sehr laut; offenbar nahm er an, dass ich ihn dann besser verstand. »Francesca?«, fragte er noch einmal.
Denn schon wieder war ich wie angewurzelt stehen geblieben. »Letter!«, sagte ich hingerissen und zeigte auf meinen Türrahmen. Ein Röhrchen hing dort, wie ich schon an der Haustür eins gesehen hatte, aus bemaltem Holz diesmal, aber kein Zweifel: Es steckte bereits ein Brief für mich darin! Schon tat ich einen Schritt darauf zu, um den winzigen Zettel herauszunehmen, der durch eine kleine Öffnung zu erkennen war, als mir einfiel, dass ich das Behältnis wahrscheinlich zuerst küssen
Weitere Kostenlose Bücher