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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Jüngsten. Zeig mir, was du mitgebracht hast.«
    Sie streckte die Hand nach meinem Koffer aus und ich war so überrumpelt, dass ich ihn sofort herausrückte. Mit kritischem Blick legte sie ihn auf den Wickeltisch und packte aus, schichtete meine Kleidungsstücke achtlos übereinander, befühlte den Kerzenleuchter. Endlich fand sie, was sie offenbar suchte: die Metalldose mit meinen gesammelten Briefen, Fotos und dem Portmonee. Mit zufriedenem Gesicht schüttelte sie die Münzen in ihre Hand und ließ meine kleinen Ersparnisse in der Küchenschürze verschwinden.
    »Sie zahlen mir pro Woche sechs Shilling acht Pence für deinen Unterhalt«, sagte sie. »Dir ist klar, dass das die Kosten nicht annähernd deckt.«
    Ich nickte beschämt. Ich hatte keine Ahnung, wie weit man mit sechs Shilling acht Pence kam, ich wusste nur, dass die Shepards überhaupt nichts bekommen hatten.
    »Ein schönes Stück«, sagte Mrs Stone, streckte nochmals die Hand nach dem Kerzenleuchter aus – und griff ins Leere.
    »Der ist geliehen! Der gehört meinen Pflegeeltern in London«, stotterte ich, hielt den Leuchter hinter meinen Rücken und blickte erschrocken in ihr empörtes Gesicht.
    »Damit eins von Anfang an klar ist«, fuhr sie mich an. »Wir sind nicht deine Pflegeeltern, wir sind deine Gastgeber und du wirst dich entsprechend benehmen, verstanden?«
    »Klar«, murmelte ich.
    »Den Koffer kannst du unters Bett schieben. Und jetzt komm.«
    Ich klappte meinen Koffer zu und beeilte mich, ihr zu folgen. In der Küche hatte ich bei meiner Ankunft Kinder gesehen und erwartete, ihnen nun vorgestellt zu werden, doch stattdessen führte sie mich geradewegs in die Waschküche. »Hier«, sagte sie, drückte mir ein Bügeleisen in die Hand und fügte unfreundlich: »Was ist?« hinzu, als sie mein betretenes Gesicht sah. »Hast wohl nicht arbeiten müssen bei deiner feinen Londoner Familie?«
    Ich schluckte. »Es ist Schabbat! Wir dürfen nicht bügeln!«, erwiderte ich schwach.
    »Ich glaube gewiss nicht, dass ich mir von einem Kind sagen lassen muss, wie ich meine Religion auszuüben habe«, erwiderte Mrs Stone ärgerlich und knallte die Tür hinter sich zu.
    Und ich heule nicht!, befahl ich mir. Nicht wegen ein paar Tagen. Nicht wegen einer wie Mrs Stone! Diebin! Schabbatbrecherin! Sie verdient es nicht, dass man ihretwegen heult!
    Wohltuende Verachtung breitete sich in mir aus. Die zwei Stunden, bis Mrs Stone mich wieder aus der Waschküche herausließ, vergingen wie im Flug. Nur einen ganz kurzen Augenblick wankte ich in meinem Vorsatz – als sie zwei große Brandlöcher in der Bettwäsche entdeckte und mir eine schallende Ohrfeige auf dieselbe Stelle versetzte, die noch von Mr Wyckhams erst wenige Stunden zurückliegendem Angriff schmerzte.
    »Wie dumm bist du eigentlich? Für freche Sprüche kriegst du den Mund auf, aber zugeben, dass du keine Ahnung vom Bügeln hast, ist wohl zu viel verlangt!«, schrie sie mich an. Mit gesenktem Kopf hockte ich am Abendtisch zwischen ihren eigenen Kindern, deren Blicke beinahe Löcher in mich brannten.
    »Können wir sie umtauschen? Ich mag sie nicht.« Der Junge neben mir mochte etwa acht Jahre alt sein. »Halt den Mund, Herbert«, erwiderte sein Vater.
    Mr Stone besaß ein nicht unfreundliches Gesicht, das sich sogar für Sekundenbruchteile zu einem Lächeln verzogen hatte, als er mir die Hand gab. Ein Blick von Mrs Stone hatte ihn allerdings sofort in die Schranken gewiesen und er sprach während des ganzen Abends nur diesen einen Satz: »Halt den Mund, Herbert«, wodurch ich nun immerhin die Namen dreier Kinder kannte. Die Vierjährige musste Rachel sein, das Baby hieß Luke – meine beiden Zimmergenossen. Herberts ältere Schwester war zehn oder elf und dachte nicht daran, sich vorzustellen; erst am nächsten Tag schnappte ich auf, dass sie Pearl hieß.
    Aber wenn ich ehrlich sein sollte, interessierten die Kinder der Stones mich überhaupt nicht. Ich hätte nach dem ersten Abend nicht einmal sagen können, ob sie zu viert, fünft oder acht waren. Mittlerweile war ich so hungrig, dass ich kaum an etwas anderes denken konnte als an die Suppe, die auf dem Herd köchelte. Seit dem Babybrei am Abend zuvor hatte ich nichts mehr gegessen, von Mr Wyckhams Schinkensandwich einmal abgesehen. Nun hefteten sich meine Augen gierig an den Suppentopf, bis Mrs Stone ihn endlich in die Mitte des Tisches stellte. Der Duft, der dem Topf entströmte, machte mich so schwach, dass ich mich mit beiden

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