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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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herunterzuschlucken, die aufkommen wollten, sobald ich nur das Wort »Post« dachte. Während die anderen Kinder längst von zu Hause gehört hatten, manche sogar zweimal, blieb ich als Einzige ohne Nachricht. Dass der Briefverkehr nach Holland länger dauerte, war klar, aber dass Amanda mich im Stich ließ, mochte ich einfach nicht glauben.
    Und doch: Eine ganze, unendlich lange Woche war ich nun bereits hier, und langsam sah es wirklich so aus.
    »Vielleicht kannst du mich am Sonntagnachmittag besuchen«, schlug Hazel zögernd vor. »Wir haben immer reichlich übrig vom Mittagstisch …«
    »Und Brigid und Emma?«, erwiderte ich.
    Wir sahen zu den beiden hinüber, die uns kühl beobachteten. Ich merkte, wie Hazels Mut sank. »Lass nur«, sagte ich, »ich klaue wieder Äpfel. Der Pfarrer hat mich längst gesehen, aber er sagt nichts.«
    »Und was machst du im Winter?«
    »Im Winter? Du glaubst doch nicht, dass ich im Winter noch hier bin!«
    Obwohl niemand in Tail’s End seine Haustür abschloss, durfte ich das Heim der Stones erst betreten, nachdem ich geklopft hatte und offiziell eingelassen worden war. Neben der Tür stand ein Schaukelstuhl, der mir als Wartesessel diente, bis sich jemand dazu herabließ.
    Wenn heute Post da ist, komme ich vor dem Winter hier weg!, dachte ich schaukelnd – und erschrak zutiefst über meinen eigenen Niedergang. Noch vor einer Woche war ich so sicher gewesen, dass mir nur zwei, drei Tage in Tail’s End bevorstanden, aber es hatte erschreckend wenig bedurft, um mein gesamtes Selbstvertrauen zu zerstören. Ein paar Gemeinheiten der Stones, ein bisschen Hunger, ein Brief, der nicht geschrieben wurde …
    Nach etwa fünf Minuten ging die Tür auf und Mrs Stone schaute heraus. »Da bist du ja«, bemerkte sie gleichgültig. »Komm, wir haben schon angefangen.«
    Darauf möchte ich wetten, dachte ich und fragte ängstlich: »Ist Post für mich da?«
    Die übliche Antwort: »Nein«, gefolgt von dem jähen, messerscharfen, Tag für Tag schlimmeren Schmerz in meinem Bauch. Ich schob meinen Koffer unter Rachels Bett, legte mich einige Minuten auf ihre Matratze und krümmte mich stumm zusammen.
    Schon klang es ungeduldig aus der Küche: »Frances! Wo bleibst du?« Ich wischte mir die Tränen ab, rollte mich vom Bett und ging zu ihnen hinunter.
    Die Familienmitglieder – außer Mr Stone, der in einer Sägerei arbeitete – waren bereits am großen Küchentisch versammelt, tranken Tee und aßen Blechkuchen. »Wenn du das Gemüse für den Tscholent geschnitten hast«, sagte Mrs Stone, die Luke auf dem Schoß hielt, »darfst du dir auch ein Stück Kuchen nehmen.«
    Sie schnitt etwas harte Kruste vom Kuchen, die mit dem Obstbelag nicht einmal in Berührung gekommen war, und legte sie für mich auf einen Teller. Der Nachmittag war gerettet. Was vom Abendessen abfallen würde, blieb abzuwarten. Ich war nicht ohne Hoffnung, dass der bevorstehende Schabbat sie großzügiger stimmte.
    Gegen sechs Uhr kam Mr Stone von der Arbeit, Mrs Stone entzündete die Kerzen und wir setzten uns zu Tisch. Es gab in der Umgebung keine Synagoge, also beschränkte sich die Schabbatfeier auf ein Gebet über Brot und Wein sowie zwei Lieder. »Schabbat Schalom«, wünschten wir einander – das erste Mal, dass die Kinder der Stones sich herabließen, mir die Hand zu geben – und die Mahlzeit begann.
    »So, hier hast du ihn«, sagte Mrs Stone und setzte mir Luke auf den Schoß.
    Ich wandte die Augen ab, als sie ihre Teller mit Braten, Karotten und Kartoffeln beluden. »Vielleicht lasst ihr ja noch etwas für Frances übrig«, ermahnte Mrs Stone ihre Kinder. Aber ihr Ton war mild und sie hob die Silben am Ende des Satzes wie eine Frage. Als Baby Luke endlich seinen Brei intus hatte, klebten noch ganze zwei Kartoffeln in etwas Soße am unteren Rand der Schüssel.
    »Lass es dir schmecken«, sagte Mrs Stone und legte sie auf meinen Teller.
    Nach dem Abendessen vertrauten sie mir den Abwasch an und zogen sich ins Wohnzimmer zurück, um Dreidl zu spielen. Ich hörte ihr Lachen über das Platschen des Spülwassers hinweg. Sie klangen wie eine richtig nette Familie, die sich liebte und umeinander sorgte. Eine Familie, wie auch ich sie bis vor Kurzem noch besessen hatte …
    Nun fehlte nicht mehr viel und ich hätte doch noch herzhaft geheult. Aber neben mir an der Spüle stand jemand, dem es noch schlechter ging als mir. Der arme Ey-Dolf sah mich so unverwandt an, als wären es seine Kartoffeln gewesen, die

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