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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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»Sie holen Mrs Collins«, flüsterte Hazel. »Erst sollte ich alles aufräumen, dann haben sie es sich anders überlegt. Vielleicht haben wir Glück und sie geben uns zurück!«
    Mrs Collins fand uns auf Hazels Matratze, als sie am Morgen das Zimmer betrat. Wir waren im Sitzen eingeschlafen, die Kerze heruntergebrannt. Sie sagte nur ein einzges Wort: »Kommt!«, dann hielten wir unsere gar nicht erst ausgepackten Koffer in der Hand, kletterten über die Verwüstungen des gestrigen Abends hinweg und standen auf der Straße.
    »Schickt mir gefälligst jemanden zum Saubermachen!«, brüllte Mr Wyckham. Er hatte Mrs Collins am Abend nicht mehr erreicht und bis zum Morgen auf sie warten müssen, was seine Wut wahrscheinlich die ganze Nacht über angefacht hatte.
    »Oh, Frances!«, hauchte Hazel entsetzt, als sie mich bei Tageslicht anschaute.
    Ich fuhr mit der Zunge über meine Unterlippe und entdeckte eine gute alte Bekannte: die blutige Schwellung. »Du bist grün und blau«, sagte Hazel mit großen Augen.
    »Was in aller Welt ist passiert?«, fragte Mrs Collins entgeistert.
    »Sie ist Jüdin, sie wollte kein Schinkenbrot«, antwortete Hazel für mich.
    »Großer Gott«, murmelte Mrs Collins.
    Die WVS-Frau, die mit ihr gekommen war und bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte, bemerkte kleinlaut: »Es gibt eine jüdische Familie in Tail’s End, allerdings haben sie genug eigene Kinder, sodass wir bisher dort nicht angefragt haben …«
    Sie griff nach meinem Arm, doch ich entriss ihn ihr sofort. »Ich will nicht zu irgendeiner jüdischen Familie in Tail’s End, ich will zurück zu den Shepards!«, schrie ich. »Von wegen, auf dem Land ist es sicherer! Hier ist es ja noch viel gefährlicher als in London!«
    Dieser Vorwurf war nicht zu widerlegen, deshalb gingen sie gar nicht erst darauf ein. Drei Stunden später stand ich – ohne Hazel – an der Haustür der Familie Stone.
    Tail’s End. Zwei Dutzend Häuser aus grobem Backstein zu jeder Seite der einzigen Straße, eine anglikanische Kirche, eine winzige Schule. Es gab einen Marktplatz mit einem Dorfbrunnen und einem Pub, dem Hound and Horn ; auch Postamt, Bäcker, Fleischer und Gemischtwarenladen fand man dort. Man lief fünf Minuten durch Tail’s End und kannte sich bereits aus.
    Nach etwa vier Tagen begann Mrs Collins sich zu wundern, dass ich jeden Tag mit meinem Koffer zur Schule kam. »Du wirst doch nicht so dreist sein, unter meinen Augen einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen?«, fragte sie misstrauisch.
    »Ich kann den Koffer nicht aus den Augen lassen, weil die Stones mich sonst bestehlen«, erklärte ich wahrheitsgemäß.
    Mrs Collins seufzte. »Ich habe selten ein Kind getroffen, dass so zur Übertreibung neigt wie du«, meinte sie und schnitt mir gleich das Wort ab, als sie mich daraufhin nur Luft holen sah. »Ich weiß, dass du vermutlich alles behaupten würdest, um zurück nach London zu kommen, aber ich kann es nicht ändern, verstehst du?«, sagte sie gereizt. »Du bist jetzt hier, und solange keine autorisierte Person auftaucht und mich vom Gegenteil überzeugt, wirst du auch hier bleiben! Bitte erspare mir das Theater mit dem Koffer, ich habe schon genug Ärger!«
    Dies bezog sich auf die örtliche Lehrerschaft, die ihr Schulgebäude kurzerhand für zu klein erklärt hatte, um eine weitere Klasse aufzunehmen.
    So trafen wir uns auf der Dorfgemeinschaftswiese, die anderen Kinder saßen auf Decken, ich auf meinem Koffer, und Mrs Collins schickte besorgte Blicke zum Himmel, sobald sich nur das kleinste Wölkchen zeigte. Sie musste im Freien unterrichten und jeden Morgen um den unzuverlässigen Transport der Kinder aus Tail’s Mews bangen. Sie hatte keine Lust auf ein zusätzliches Problem.
    »Trotzdem. Ich lüge nicht!«, wehrte ich mich mit zitternder Stimme, worauf sie zwar nicht antwortete, aber fortan immerhin duldete, dass ich meinen Besitz mit mir herumtrug.
    Was ich in dieser ersten schrecklichen Woche ohne Hazel getan hätte, weiß ich selbst nicht.
    »Das ist dein Schlafplatz«, hatte Mrs Stone gesagt und die Tür zu einem röhrengleichen Zimmer geöffnet, in dem zwei Kinderbetten und ein Wickeltisch hintereinander standen. Der Raum war so schmal, dass selbst die hagere Mrs Stone an der Wand anstieß, wenn sie an den Betten und der dünnen Matratze entlangging, die dort angelehnt stand. »Wenn du nachts die Tür schließt, kannst du die Matratze quer davorlegen. Du schläfst mit Rachel und Luke, unseren beiden

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