Liverpool Street
Händen an meinem Teller festhalten musste.
Allerdings nicht sehr lange. »So, hier hast du ihn«, sagte Mrs Stone, machte meine rechte Hand vom Teller los und setzte mir Baby Luke auf den Schoß. Sie stellte eine Schüssel Babybrei in meinen Suppenteller und gab mir einen Babylöffel in die Hand, und während ich den Stones dabei zusah, wie sie Suppe, Brot und Butter unter sich herumreichten, kam ich langsam dahinter, dass mir soeben die Fütterung ihres Jüngsten übertragen worden war.
Und ich heule nicht! , erinnerte ich mich mit einiger Mühe und tauchte den Löffel in den Brei.
Doch leider hatte ich keine Erfahrung mit Babys. Ich konnte nicht einmal sagen, ob sie generell so langsam aßen oder ob Luke lediglich das langsamste Baby Englands war. Als die Stones sich zum zweiten Mal die Teller füllten, hatte ich ihn immer noch auf dem Schoß und allmählich den Verdacht, dass er mehr ausspuckte, als ich je eingefüllt hatte. Sein Lätzchen und mein eigener Ärmel waren vom Inhalt der Schüssel bald kaum noch zu unterscheiden.
Schließlich hatte Mrs Stone ein Einsehen und befreite ihren Sohn aus meinen Armen. »Du bist wirklich das ungeschickteste Kind, das ich je getroffen habe«, sagte sie kopfschüttelnd und schob den Suppentopf zu mir hin.
Endlich! Hastig griff ich nach der Kelle, wollte schöpfen – und stieß auf Metall. Langsam kippte ich den Topf, um hineinzusehen. Er war so gut wie leer. Als ich ungläubig aufschaute, begegnete ich den hämischen Blicken der beiden älteren Kinder.
»Kipp den Topf über dem Teller aus«, sagte Mrs Stone gleichgültig.
Ich tat wie geheißen, rettete auf diese Weise noch zehn Löffel erkaltete Suppe sowie eine halbe Handvoll Krümel, die im Brotkorb übrig geblieben waren und die ich als Einlage in meine Mahlzeit schütten konnte. Ich lächelte die Stones an, während ich aß. Das ist bestimmt ein Witz, dachte ich. Sicher haben sie mein richtiges Abendessen im Schrank versteckt!
»Nach dem Essen kannst du dann mit mir abwaschen«, befahl Mrs Stone. »Merk dir, wo die Sachen hinkommen. Ab morgen helfe ich dir nicht mehr.«
Zwei Stunden später, als ich meine Matratze zum Schlafen quer vor die Tür legte, rechnete ich immer noch damit, dass irgendjemand kommen und mir mein Abendessen bringen würde. Aber ein Stone nach dem anderen putzte sich an dem winzigen Becken in der Waschküche die Zähne und ging zu Bett. Vor der Tür wurde es ruhig, noch ruhiger und schließlich ganz still – und wenn ich noch so angestrengt hoffte.
Nur Rachel quengelte in ihrem Bett. »Ich will ’ne Geschichte!«
»Ich weiß keine«, sagte ich, jetzt doch den Tränen nahe. »Ich bin zu hungrig.«
»Aber Mum sagt, du musst uns jetzt unsere Geschichten erzählen! Ich rufe Mum, wenn du es nicht machst!«
Langsam wurde mir klar, wie die Dinge in diesem Haus funktionierten.
Am Sonntag ergatterte ich eine brettharte Toastbrotschnitte zum Frühstück, einen Knödel mit etwas wässrigem Kraut zum Mittagessen und einen halben Teller Suppe mit Brotkrümeln am Abend. Ich hatte nicht gewusst, dass man so hungrig sein konnte. Um die beiden Finger meiner rechten Hand, die Mrs Stone in der Nacht zwischen Tür und Matratze eingequetscht hatte, wickelte ich ein Taschentuch, das ich ab und zu in kaltes Wasser tauchte.
Wie ein böser Engel war sie im weißen Nachthemd vor mir herumgeflattert, Lockenwickler und Metallklammern standen ihr in allen Richtungen vom Kopf. »Ich schlafe immer so tief!«, verteidigte ich mich. »Ich habe nicht gehört, dass Luke geweint hat!«
»Es ist jetzt deine Aufgabe, für die Kleinen zu sorgen!«
»Aber wenn ich es doch nicht höre?«
»Schluss jetzt! Rachel, wenn Luke weint, kletterst du aus deinem Bett und rüttelst Frances, bis sie wach ist.«
Wenn es im Hause Stone überhaupt jemanden gab, der in der Rangordnung noch unter mir stand, dann war es Ey-Dolf, der Hund. Der große, zottelige Mischling wurde geschubst, herumkommandiert und wenn er sich erwischen ließ auch getreten, und selbst die kleine Rachel rief ihn nur herablassend: »Ey, Dolf!« Er und ich verbrüderten uns fast sofort.
»Kann ich mit Dolf spazieren gehen?«, fragte ich in der Mittagspause.
Mrs Stone hatte nämlich angekündigt, dass ich zwischen dem Mittagsabwasch und dem Tischdecken fürs Abendessen einen freien Nachmittag haben sollte. Vier Stunden für mich, vier Stunden ohne die Stones! Ich musste nicht einmal Luke mitnehmen.
»Ey-Dolf geht nie spazieren«, erwiderte Mr Stone,
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