Liverpool Street
den ich gefragt hatte. »Na schön«, setzte er hinzu, als er mein enttäuschtes Gesicht sah. »Versuch es. Vielleicht gefällt es ihm ja.«
Zwanzig kostbare Minuten meiner Pause verstrichen, bis ich Ey-Dolf von meinem Vorhaben überzeugen konnte. Ich zog an seinem Strick, er zog mit hervortretenden Augen dagegen. Am Zaun standen Pearl, Herbert und Rachel und feuerten ihn an. »Gut, Ey-Dolf! Geh nicht mit ihr! Sitz, Ey-Dolf! Fass! Platz! Krieg sie!«
Vielleicht war es ihr Lärm, der ihn entnervte, jedenfalls gab er schließlich unvermittelt auf und trottete schicksalsergeben mit mir los.
Die Stones wohnten am oberen Ende der Dorfstraße, kurz hinter ihrem Garten begann das freie Feld, das zu einem Hügel anstieg. Oben angekommen ließ ich meine Augen überrascht ins Weite schweifen. Die Landschaft war ein warmes, duftendes, von leichtem Sommerwind umhauchtes Gemälde, es gab Bäume in allen Farbschattierungen zwischen sattem Grün und hellem Gelb, sanft geschwungene Hügel und von Steinwällen gesäumte Schafweiden, so weit das Auge reichte. Nur hinter dem Wald war ein hellgrauer Streifen erkennbar und verlor sich am Horizont … das Meer! Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wir mussten ganz in der Nähe des Kanals sein!
Auch Ey-Dolf schien plötzlich Spaß an der Sache zu bekommen und rannte mit hängender Zunge neben mir den Hügel hinunter. Seine Nase schwebte dicht über dem Boden; genießerisch sammelte er Düfte ein. Nun war ich es, die an der Leine vorwärtsgezogen wurde. Wir erreichten den Waldrand und konnten das Meer schon hören, liefen den letzten sandigen Hügel hinauf, bereit, uns über die Kuppe ins Vergnügen zu stürzen …
… und wären um ein Haar in eine hohe Stacheldrahtrolle gerannt! Außer Atem blieben wir stehen und ich glaube, auch der Hund betrachtete einigermaßen verdutzt dieses Hindernis. Denn die Stacheldrahtrolle zog sich den gesamten Strandabschnitt entlang. Wir liefen ein Stück nach links, dann nach rechts, doch fanden keinen einzigen Durchgang.
Enttäuscht legte ich meine Hand über die Augen und spähte ins Weite. Draußen auf dem Wasser waren wesentlich mehr Schiffe unterwegs, als ich im August in Southend gesehen hatte: einige kleinere Frachter und Fischkutter, aber auch Patrouillenboote und ein großes graues Schiff, das – ich erkannte es ganz deutlich – mehrere schmale Torpedorohre ausstreckte und langsam vor der Küste zu kreuzen schien.
Und plötzlich begriff ich, was der Stacheldraht bedeutete. Er war zum Schutz vor einer Invasion der Deutschen errichtet worden – für den Fall, dass es dem Zerstörer in unserer Bucht nicht gelingen sollte, die Angreifer aufzuhalten.
»Komm, Dolf, wir verschwinden!«, flüsterte ich und der Hund schien zu verstehen. Wir rannten durch den Wald zurück, so schnell wir konnten.
Ich hatte nicht geahnt, dass der Krieg uns schon so nahe gekommen war.
»Du musst Mrs Collins unbedingt erzählen, wie die Stones mit dir umgehen!«, flüsterte Hazel mir am Freitag vor unserem zweiten Wochenende in Tail’s End zu.
»Hab ich doch versucht. Sie glaubt, ich lüge!«, erwiderte ich hoffnungslos.
Hazel hatte es in ihrer zweiten Gastfamilie zum Glück gut getroffen. Sie war bei den Greys untergekommen, die schon Brigid und Emma aus der sechsten Klasse aufgenommen und ohne Wenn und Aber noch ein drittes Bett in ihr Gästezimmer gestellt hatten. Während ich mit Hazel redete, ließen die beiden älteren Mädchen uns nicht aus den Augen. Sie konnten noch immer nicht fassen, dass jemand aus ihren Reihen freiwillig mit der verrückten Hunnin sprach. Jeden Tag redeten sie Hazel erneut ins Gewissen: Ich war der Feind, die Deutsche – hatte Mrs Collins das nicht selbst gesagt?
Hazel hätte nie etwas unternommen, um mich gegen andere Kinder in Schutz zu nehmen, aber in ihrer eigenen Meinung über mich blieb sie unbeirrt. Tapfer ignorierte sie die verächtlichen Blicke, die sie trafen, wenn sie mir morgens eines ihrer beiden Brote zusteckte. Sie war es auch gewesen, die mich auf die Apfelbäume hinter der Kirche aufmerksam gemacht hatte, wo ich mich seitdem jeden Tag versorgte. Ohne Hazel wäre ich in meiner ersten Woche in Tail’s End verzweifelt. Meine tiefe Niedergeschlagenheit angesichts des bevorstehenden unterrichts- und hazelfreien Wochenendes führte mir dies umso deutlicher vor Augen.
»Und deine Mutter?«, fragte sie mitfühlend. »Hast du endlich Post bekommen?«
Ich schüttelte stumm den Kopf und versuchte die Tränen
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