Liz Balfour
ich. »So nah an Martins Haus … Er war zu der Zeit schon fortgegangen, also warum zog Deirdre dorthin?«
»Du wirst warten müssen, bis sie aufgewacht ist. Sie ist die Einzige, die dir deine Fragen beantworten kann«, sagte Siobhan.
»Und was, wenn sie nicht…«, begann ich.
»Müßig, jetzt darüber nachzudenken. Ich finde, du solltest dir über etwas ganz anderes im Leben deiner Mutter Gedanken machen.«
Ich hörte gespannt zu. »Was meinst du?«
»Ich meine, dass Deirdre ihr Leben lang ein krankes Herz hatte. Und dann brach man es ihr auch noch. Sie hat sich gut durchs Leben gekämpft. Eine andere Frau hätte es umgebracht. Ich glaube, du warst der Grund, warum sie so lange durchgehalten hat.«
»Ich?«
»Du kannst es nicht wissen, aber Deirdre war die stolzeste Mutter der Welt. Sie weinte in der ersten Woche jeden Tag vor Glück, dass es dich gab.«
Tränen schossen mir in die Augen. »Wirklich? Woher weißt du das?«
»Natürlich von deinem Vater.«
»Aber … warum hat sie mich weggegeben? Und warum war sie immer so distanziert? Mit allen möglichen Leuten kann sie nett plaudern und scherzen und lachen, nur nicht mit mir! War ich so eine Enttäuschung für sie?«
»Ally! Wenn ich dich jetzt vor mir hätte, würde ich dich schütteln! Denk doch mal nach. Deine Mutter hatte ihr Leben lang Komplexe dir gegenüber. Du warst ein intelligentes, wissbegieriges Kind. Sie wusste, dass sie dir mit ihrer Schulbildung irgendwann nicht einmal mehr bei den Hausaufgaben würde helfen können. Sie hatte
Angst vor den Fragen, die du stellen würdest und die sie nicht beantworten könnte. Je älter du wurdest, desto größer war ihre Überzeugung, nicht mehr, nun ja, mithalten zu können. Das ist alles. War dir das denn nicht klar?«
»Nein«, flüsterte ich. »Nein …« Nun, da Siobhan es ausgesprochen hatte, verstand ich nicht mehr, warum ich es nicht schon viel früher begriffen hatte. Es war doch so offensichtlich gewesen!
»Deshalb haben deine Eltern dich doch nie in London besucht. Deirdre sagte immer: ›Wir gehören da nicht hin. Sie soll nach Hause kommen, um uns zu sehen, aber was soll sie denn von uns denken, wenn sie uns in der Stadt sieht? Sie wird denken: Diese Hinterwäldler, hoffentlich ahnt keiner, dass das meine Eltern sind!‹ Und Colin hatte sowieso immer ein Problem mit mir. Die übliche Konkurrenz unter Geschwistern, die leider irgendwann eskalierte. «
»So hat Mam gedacht?«, fragte ich mit tränenerstickter Stimme. »Warum wusste ich das nicht?«
Siobhan wartete etwas, bevor sie antwortete. »Du warst ein Kind, Ally. Und irgendwann war der Zeitpunkt vorbei, da konnte sie nicht mehr einfach so mit dir darüber reden. Wie kann sich eine Mutter mit ihrer Tochter an einen Tisch setzen und sagen: Hör mal zu, ich hab so einen Respekt vor dir, ich komme mir neben dir so dumm und klein vor, dass ich gar nicht weiß, wie ich mit dir umgehen soll. Nein, das hat sie nicht fertiggebracht. Sie wollte, dass du sie respektierst.«
Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich war glücklich darüber, endlich sicher zu wissen, dass meine Mutter mich immer geliebt hatte, und gleichzeitig unendlich
traurig über die Zeit, die wir durch dumme Missverständnisse verloren hatten.
»Der Kopf ist nicht immer der beste Ratgeber«, hörte ich Siobhan sagen. »Die intelligentesten Menschen begehen die größten Fehler, weil sie zu lange über das Für und Wider einer Entscheidung nachdenken, statt auf ihr Gefühl zu hören. Auf ihr Herz. Deirdre ist keine dumme Frau, ganz im Gegenteil. Sie hat nur viel zu viel darüber nachgedacht, wie sie ihrem Kind das Beste bieten kann.«
Und ich dachte:Vielleicht ginge es Deirdre heute wirklich besser, wenn sie auf ihr Herz gehört hätte. Auch, wenn es mich dann nicht gäbe.
Gerade noch pünktlich traf ich in dem Café in Fitzrovia ein. Es befand sich nur wenige Minuten vom Oxford Circus entfernt. Kate liebte dieses Café, weil der Australier, der es führte, angeblich den besten Kaffee in ganz Großbritannien machte. Ich setzte mich an einen Tisch am Fenster, bestellte einen Espresso und nahm mir eine Zeitung. Kate war noch nicht da, vielleicht dauerte es doch etwas länger bei Benjamin in der Kanzlei.
»Du hättest ja mal anrufen können«, sagte eine vertraute Stimme. Ich sah auf: Benjamin stand vor mir und sah mich ernst an. »Darf ich?«
Ich nickte, und er setzte sich zu mir. Kein Begrüßungskuss wie sonst, dachte ich, ob er von Eoin weiß? Sieht man es mir
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