Liz Balfour
und Bücher mitbringen. Vielleicht ein paar Gegenstände, einen Schal oder einen Pullover, etwas zum Anfassen, das du ihr in die Hand legen kannst. Ihr Parfum. Wir sollten alle Sinne ansprechen. Was hältst du davon?«
»Tollster Mann der Welt«, sagte ich und zog ihn noch fester an mich. »Findest du den Weg?«
»Mein unbeugsamer Begleiter, der kleine Navigationsgnom auf dem Armaturenbrett, wird mich leiten.«
Trotz allem musste ich lachen. »Danke. Und pass auf, dass aus dem Gnom kein Púca wird.«
»Kein was?«
»Erklär ich dir später. Wirst du zurechtkommen? Du warst ja noch nie dort.«
»Natürlich. Mach dir um mich keine Gedanken.«
Benjamin küsste sanft meine Lippen, nahm meinen Schlüssel für das Cottage und ging dann eilig den langen Krankenhausflur entlang zur Tür, die die Intensivstation vom Rest des Gebäudes trennte.
Ich ging zurück zu meiner Mutter, setzte mich neben ihr Bett und tastete nach ihrer Hand. Sie fühlte sich schlaff, trocken und kalt an.
»Ich bin’s, Ally«, sagte ich. Es klang unbeholfen. Ich musste mich räuspern. »Benjamin ist auch da. Er fährt nur schnell ins Cottage, um ein paar Sachen für dich zu holen. Wir sind sofort gekommen, als wir die Nachricht bekommen haben.« Ich geriet ins Stocken. »Ich hoffe, du wirst ganz schnell wieder gesund. Ich … mache mir natürlich Sorgen um dich.«
Dann fiel mir nichts mehr ein, was ich zu ihr hätte sagen können. Worüber sollte ich sprechen? Es war nicht mal sicher, dass sie mich hören konnte. Die Ärztin steckte den Kopf zur Tür herein.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Ich nickte. »Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.«
»Das geht den meisten so. Deshalb ist es am einfachsten,
mit Vorlesen anzufangen. Irgendwann gewöhnen Sie sich daran, dass sie keine Antwort bekommen, und plappern einfach drauflos. Viele singen sogar etwas vor.«
»Wirklich?«
»Glauben Sie mir. Ich arbeite seit Jahren mit Komapatienten. « Sie schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und verschwand.
Unschlüssig sah ich auf meine Mutter, die unverändert dalag. Ich studierte ihr Gesicht und suchte nach Ähnlichkeiten mit mir, erkannte mich aber nicht. Ich versuchte, mich an schöne Momente von früher zu erinnern, um ihr davon zu erzählen, aber mir wollten keine einfallen.
Mein Kopf blieb leer.
Und dann formulierte sich eine Frage in meinem Kopf, die ich ihr unbedingt stellen wollte, aber unmöglich stellen konnte: Was geschah wirklich an dem Tag, an dem mein Vater starb?
Ich stand hastig auf und floh aus dem Zimmer. Ich brauchte Bewegung und eine Aufgabe. Also suchte ich die Cafeteria, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich hoffte, die Zeit damit herumzubringen, bis Benjamin endlich zurückkam. Es kam mir vor, als seien bereits Stunden vergangen. Aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass er noch keine zwanzig Minuten unterwegs war. Er würde frühestens in einer Stunde wieder bei mir sein. Wenn er sich sehr beeilte und alles sofort fand. Erschöpft setzte ich mich an einen freien Tisch und starrte auf die Flasche Wasser, die ich mir gekauft hatte.
Die Umstände, die zum Tod meines Vaters geführt hatten, waren auf den ersten Blick klar. Die Polizei hatte den Unfall untersucht, und es gab keinen Grund für mich, an
irgendetwas zu zweifeln. Einzig, wie Deirdre damit umging, hatte schon am Tag der Bestattung in mir eine Stimme wachgerufen, die sich immer wieder meldete, die immer wieder rief: »Da stimmt etwas nicht. Sie hat dir nicht alles gesagt.« Diese Stimme war über die Jahre lauter geworden, und heute dröhnte sie durch meinen Kopf. Was genau war es in Deirdres Verhalten, das diese nagenden Zweifel hervorgerufen hatte? Ihr ausweichender Blick, wann immer es um Vater ging? Ihre rasanten Themenwechsel? Oder einfach, dass sie sich über einen Tag Zeit gelassen hatte, mir zu sagen, dass er tot war? Aber was konnte es sein, das sie mir verschwieg?
Jahrelang hatten wir es nicht geschafft, über die wirklich wichtigen Dinge zu reden. Und nun – war es nun zu spät? Würde ich nie wieder die Chance haben, mit ihr über meinen Vater zu sprechen? Was, wenn sie einfach nicht mehr aufwachte? War uns die Zeit weggelaufen, ohne dass wir es bemerkt hatten? Wie oft hatte ich gedacht, Deirdre sei noch jung, wie lange hatte ich geglaubt, es gäbe keinen Grund zur Eile. Wie falsch hatte ich gelegen.
»Es ist gut, dass du da bist«, sagte eine Stimme hinter mir und riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken fuhr ich herum und sah in Eoins
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