Liz Balfour
kleine Frank hält die beiden schwer auf Trab. Die ersten Tage hat er ja fast nur geschlafen, und sie dachten wohl, es ginge immer so weiter. Aber jetzt quält er sie Tag und Nacht mit seinem Geschrei.« Er lachte. »Ich soll dir sagen, dass sie jeden Tag ein Foto von ihm machen und es mir mailen, damit du nichts verpasst.«
Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. Diese Leute, von
denen ich nichts wusste als die Vornamen, gingen mit ihr um, als sei sie die Großmutter ihres Sohnes.
»Und weißt du, wer seit heute wieder im Lande ist? Cathal. Er war ein paar Wochen in England und hat neue Songs aufgenommen. Er war sogar bei der BBC. Sie haben ihn interviewt, und er hat ein paar Stücke live eingespielt. Es wird übermorgen gesendet. Soll ich es dir aufnehmen? Dumme Frage. Natürlich soll ich es dir aufnehmen. Meine Güte, da hab ich ja alle Hände voll zu tun in der nächsten Zeit! Und du ruhst dich hier mal schön aus. So, jetzt ist aber Ally dran.« Er sah zu mir rüber und nickte mir aufmunternd zu. »Ally? Was hast du heute so gemacht?«
Ich wollte etwas sagen, aber ich schaffte nur ein tränenersticktes Krächzen.
»Oh. Ally hat sich ein bisschen erkältet«, sagte Eoin und zwinkerte mir zu. »Sie ist extra von London hergeflogen, weißt du. Ihr war sowieso langweilig in der großen grauen Stadt. Immer nur dieser Autolärm und dieser Gestank. Sie freut sich sehr über die irische Landluft, nicht wahr, Ally?«
»Ja«, brachte ich heraus.
»Ally sieht heute übrigens ganz hervorragend aus. Nicht so blass wie auf den Fotos im Internet. Die frische Luft tut ihr gut! Aber sie hat die Haare hochgesteckt, so wie du es nicht magst. Keine Sorge, ich rede mit ihr. Morgen, wenn sie wiederkommt, trägt sie die Haare offen.« Wieder zwinkerte er mir zu, und ich musste lachen.
»Sie mag es nicht, wenn ich die Haare hochstecke?«
»Sprich mit ihr«, sagte er. »Sie kann uns bestimmt hören.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Doch, glaub mir. Natürlich kann sie uns hören. Also?«
Es fiel mir immer noch schwer, und ich beneidete Eoin um seine Fähigkeit, so unbefangen drauflos reden zu können. Mit einem Menschen, der nicht antwortete. Nicht reagierte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts hörte oder fühlte. Denn ich glaubte nicht an die Geschichten, die man sich über Komapatienten erzählte. Für mich hatte immer festgestanden, dass diese Behauptungen nur zur Beruhigung der Angehörigen in die Welt gesetzt worden waren.
Ich sah auf die Uhr. Benjamin müsste bald zurückkommen. Sehr lange konnte es nicht mehr dauern. »Mutter«, sagte ich unsicher. »Ich …«
»Weiter«, flüsterte Eoin. »Sag irgendwas!«
Ich machte eine verzweifelte Geste und flüsterte: »Aber was?«
Er verdrehte die Augen. »Deirdre, ich lass euch zweimal allein. Ich hab dich schon lange genug vollgequatscht. Ally will dich jetzt ganz für sich haben. Wir sehen uns!«
Er ging zur Tür und nickte mir zu.
»Warte«, rief ich. »Ich kann das nicht!«
»Ally, tu’s einfach«, sagte er und zog die Tür hinter sich zu.
Ich sah zu Deirdre, die immer noch genauso dalag wie vor einer Stunde.
»Hallo«, sagte ich. Dann holte ich tief Luft und fuhr stockend fort: »Du wirst nicht glauben, was am Flughafen in London los war …«
Liebe Deirdre,
du sollst es von mir erfahren: Meine Frau bekam vor drei Stunden unser viertes gemeinsames Kind. Es ist ein Junge, wir nennen ihn Eoin nach einem Onkel meines Vaters, der nach Australien auswanderte, dort sein Glück fand und seine Familie in Irland nie vergaß. Ohne ihn hätten meine Großeltern nicht überleben können. Eoin floh nach dem Scheitern des Osteraufstands 1916, wo er an vorderster Front gekämpft hatte, um dem Kriegsgericht der Erschießung durch die Engländer zu entgehen. Er kehrte nach ein paar Jahren als reicher Mann zurück und konnte nicht nur meine Großeltern, sondern auch de Valera und seine Partei finanziell unterstützen. Natürlich hoffe ich, dass aus dem kleinen Eoin auch mal ein tapferer Mann wird, der genau weiß, was er vom Leben erwartet und unbeirrt für sein Glück kämpft. So, jetzt weißt du es.
Ich denke immer noch jeden Tag, jede Stunde an dich.
M.
10.
»… und das ist die Patientenverfügung.« Die Anwältin, Dr. Irene Murphy, schob mir die entsprechenden Papiere über den Wohnzimmertisch. Ich gab sie gleich an Benjamin weiter. Dr. Murphy hatte vorgeschlagen, uns um elf Uhr mit ihr in Emerald Cottage zu treffen. Es fühlte
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