Liz Balfour
Frau?«
Kate sah sich das Foto an, das ich in einem sozialen Netzwerk gefunden hatte. Sie nickte. »Klar. Das ist Judith, sie hat bei mir kurz als Näherin gearbeitet, aber dann wollte sie mit ihrem Freund in Manchester zusammenziehen. Judith Light, ich hab dir von ihr erzählt, nicht wahr?«
»Ja. Wie gut, dass du auf deiner Homepage immer schön brav Fotos von all deinen Mitarbeitern hast. Judith ist übrigens immer noch online.« Mit einem Klick zeigte ich es ihr.
»Ich lasse die Fotos mit der Kurzvorstellung der Leute immer noch ein bisschen länger stehen, falls sie sich woanders bewerben und mich als Referenz angeben. Siehst du, ich habe einen kleinen Text unter ihr Foto geschrieben: … hat uns leider verlassen, um in Manchester ihr Glück zu finden … werden sie sehr vermissen …«
»Und ich war unethisch und habe mir die aktuelle Mitarbeiterliste von Simon Simm angesehen. Natürlich habe ich sie auf meinem Rechner, ich habe ja lange genug für ihn gearbeitet. Ich habe alle Namen im allwissenden Internet recherchiert und Miriam Vaughn gefunden. Du hast dir gerade ihr Foto angesehen.« Ich klickte zurück zu der Seite des sozialen Netzwerks. Es war eine Plattform für Berufseinsteiger in den kreativen Branchen, die sich dort austauschten und ihr Profil präsentierten. Miriam Vaughn schrieb begeistert über ihren ungewöhnlich vielseitigen Job als Assistentin der Geschäftsführung bei Simon Simm.
»Das ist Judith!«, entfuhr es Kate.
»Eben nicht. Und ich würde sagen, du solltest gleich mal folgende Mail in deinem Namen an meinen Mann verschicken.« Ich zeigte ihr ein Schreiben, das ich gerade verfasst hatte.
»Jetzt bist du aber extrem unethisch«, sagte Kate.
»Du hast mich und meine Ehe gerettet, als ich dachte, alles sei vorbei. Das hab ich dir nie vergessen. Jetzt bin ich dran, dir etwas zurückzugeben«, antwortete ich.
»Es könnte deine Ehe ruinieren«, sagte Kate.
»Eine gute Ehe muss das aushalten«, sagte ich.
Im Krankenhaus versuchte ich, einen der Ärzte dazu zu bringen, mir zu sagen, dass ich nie wieder Krücken brauchen würde, aber es hieß, ich sollte noch mindestens drei Wochen den Fuß schonen. Anschließend ging ich zu Deirdre und setzte mich neben ihr Bett. Eine Viertelstunde lang sagte ich nichts, sondern sah sie nur an. Ich hörte auf das gleichmäßige Piepen, mit dem eines der Geräte ihren Herzschlag übersetzte, und versuchte mir vorzustellen, wie sie als junge Frau vor Liebe gebrannt hatte. Wie sie bereit gewesen war, allen Konventionen zum Trotz ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen und mit einem verheirateten Mann zu leben. Ich dachte darüber nach, was sie dazu gebracht haben konnte, in die Nähe von Martins Familie zu ziehen, nachdem sie sich für ein Leben mit einem anderen Mann entschieden hatte. Ich kam wieder zu dem Schluss, dass es zwei Frauen geben musste: eine, die Naoise gehörte, und eine, die meine Mutter war.
»Ich habe etwas für dich«, sagte ich schließlich und
zog einen großen Umschlag aus meiner Handtasche. Ich hatte einige von Naoises Briefen ausgewählt und mitgebracht. »Aber erst sollst du eins wissen: Ich finde, du hast mir eine Menge zu erklären. Deshalb …« Ich schluckte, da ich merkte, wie Tränen in mir aufstiegen. »Deshalb wäre es gut, wenn du ganz schnell aufwachst. Du weißt ja, wie ungeduldig ich bin.« Ich hoffte, ich hatte noch ein wenig von der Leichtigkeit, die für meine einstudierte kleine Rede geplant war, retten können. Natürlich wollte ich vor allem anderen wissen, ob sie meinen Vater jemals geliebt hatte. Oder mich, wo ich doch nicht das Kind ihres geliebten Naoises war. Mein Vater Colin und ich, waren wir zweite Wahl gewesen? War es ihr deshalb so schwergefallen, sich mitzuteilen, offen über das zu reden, was sie bewegte? Müßig, darüber nachzudenken, aber ich konnte nicht anders. Und doch riss ich mich zusammen, schluckte all das hinunter und nahm einen Brief von Naoise in die Hand, um ihn ihr vorzulesen. Schon nach dem zweiten Satz begann meine Stimme zu zittern, und bald strömten die Tränen über mein Gesicht. Ich hielt ihre kühle, schlaffe Hand fest in meiner, bis der Brief zu Ende war.
Jemand räusperte sich, und ich erschrak heftig.
»Das war wunderschön.« Hinter mir stand die burschikose Krankenschwester, die ich mittlerweile schon sehr lieb gewonnen hatte. »Von Ihrem Vater?«
»Das sind Briefe aus der Zeit vor meinem Vater«, sagte ich und schaffte ein Lächeln.
»Ich hatte angeklopft,
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