Lizenz zum Kuessen
konnte, aber die letzten beiden Stände waren praktisch nur ein Erdhügel. Über einen dieser Hügel hinweg hatte Ellen mit einem langläufigen Gewehr auf ein paar in der Ferne flatternde Ballons gezielt, die draußen im Gelände angebunden waren. Weder der Wind noch das Knallen an den anderen Schießständen oder die sengend heiße Sonne schienen sie aus der Ruhe zu bringen. Reglos lag sie auf dem Boden und nahm ihr Ziel ins Visier. Der Wind zerzauste ihr graues Haar. Plötzlich gab das Gewehr ein leises Plopp von sich, und draußen im Gelände zerplatzte lautlos einer der Ballons. Connie hatte stolz verkündet, dass Ellen sich sogar für das olympische Team qualifizieren könnte und dass sie alle noch viel von ihr lernen könnten. Nikki war nicht entgangen, dass Ellen trotz ihrer molligen Figur an den Unterarmen Muskeln wie Stahlseile hatte.
»Ja, du musst noch kräftig üben«, sagte Jenny und hätte wohl noch mehr zu Nikkis Schießkünsten gesagt, wäre ihr Blick nicht auf ihren Teller gefallen, auf den die Köchin ihr gerade ein Kelle Brokkoli häufte. Jenny stöhnte. »Warum bekommen wir schon wieder Brokkoli? Ich hasse Brokkoli!«
»Brokkoli ist gesund«, klärte Ellen sie auf.
»Gib ihn mir«, sagte Nikki. »Ich mag Brokkoli.« Das brachte ihr wieder einen ungläubigen Blick von Jenny ein,
die aber nur zu gern ihren ungeliebten Brokkoli auf Nikkis Teller schob. In diesem Augenblick kam Dina vorbei und rempelte Jenny an. Brokkoliröschen purzelten auf den Boden.
»Dann magst du es bestimmt auch, wenn deine Pisse stinkt.« Dina warf einen vielsagenden Blick auf den Brokkoliberg auf Nikkis Teller und kicherte. Nikki schaute erst Dina fragend an, dann ihren Teller. Was sollte das denn heißen?
»Ah, du dachtest wahrscheinlich an Spargel! «, rief sie schließlich. Dina ließ ihren Mund zuschnappen wie eine Mausefalle und stolzierte ohne ein weiteres Wort davon.
»Unglaublich«, fand Jenny, während sie den Brokkoli aufsammelte und mit gezieltem Wurf in den Abfalleimer beförderte. »Nicht mal ihre Beleidigungen bekommt sie ordentlich hin. So langsam glaube ich ja, dass das Mädel sie nicht alle hat.«
»Ich wünschte, wir könnten sie irgendwie loswerden«, pflichtete Ellen ihr bei. »Es ist mir schleierhaft, warum Mrs Boyer sie zur Teamleiterin ernannt hat.«
»Wahrscheinlich losen sie die Namen aus.« Jenny hielt auf den großen Tisch zu.
Wie auf Kommando kam Mrs Boyer hereingestürmt.
»Lanier!«, bellte sie und ließ ihren suchenden Blick schweifen.
»Was hast du denn jetzt schon wieder ausgefressen?«, witzelte Jenny. Zumindest hielt Nikki es für einen Witz. Zögernd hob sie die Hand und machte sich Mrs Boyer bemerkbar.
»Besuch für Sie im Hauptgebäude«, sagte Mrs Boyer und war schon wieder weg, bevor Nikki nachfragen konnte.
»Das ist ja aufregend«, meinte Ellen. »Wer besucht dich denn?«
»Keine Ahnung.« Nikki schüttelte den Kopf. »Ich kenne
hier niemanden. Hebt ihr mein Essen für mich auf?« Jenny nickte, und Nikki eilte zum Ausgang.
Das Hauptgebäude lag an einem Hang, der zur Rückseite des Hauses hin abfiel, so dass der Eingang ebenerdig lag und an der hinteren Seite ein knapp zwei Meter hohes Sockelgeschoss war. Der direkte Weg von den Wohngebäuden der Mädchen führte an den nach hinten gelegenen Fenstern vorbei, durch den Garten und zu einem Nebeneingang. In der untergehenden Sonne leuchtete der Weg inmitten des Rasens rötlich. Nikki hatte es eilig, zum Hauptgebäude zu gelangen, und ging schneller, doch als sie unter einem der rückwärtigen Fenster vorbeilief, hörte sie Stimmen. Eine der Stimmen war eindeutig die von Mrs Merrivel. Ohne groß nachzudenken wurde Nikki langsamer und lauschte.
»Eine einzige Katastrophe! Ich bin überhaupt nicht damit einverstanden. Mrs Boyer auch nicht.« Das war Connie Hinton.
»Das kann ich durchaus verstehen«, meinte Mrs Merrivel. »Was hältst du davon?«
»Was ich davon halte?« Die Frau, der die Frage zu gelten schien, klang gelangweilt. »Dilettantisch, einfallslos und absolut nutzlos.« Nikki fielen die kurz gehaltenen Konsonanten auf, was der Stimme einen knappen, präzisen Klang gab. Ostküste, aber nicht Boston. Vielleicht New York.
»Wie oft habe ich es denn schon gesagt?« Das war wieder Connie. »Darum geht es bei Carrie Mae nicht. Wir sind keine paramilitärische Einheit!« In ihrer Stimme klang leise Verzweiflung mit, und Nikki fragte sich auf einmal, ob Mrs Boyers Wut angesichts der Kriegsspiele sich gar nicht gegen
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