Gut möglich, dass das Büro Sarkassians Persönlichkeit weitaus besser widerspiegelte als seine Garderobe. Der Boden war aus harten dunklen Schieferplatten mit schwarzen Fugen. An einer Wand standen Aktenschränke mit Jalousien. Nikki öffnete einen nach dem anderen, fand reihenweise Bücher und Aktenordner sowie ein Netzteil für den Laptop und weiteres Computerzubehör. Ein Schrank in der Ecke diente als Kleiderschrank. Der Schreibtisch bestand
aus einer schimmernden Glasplatte, die auf zwei alten Schreinerböcken lag, und auf der sich nichts fand außer einem rechteckigen, flachen Korb mit Schreibutensilien, einem Laptop und Jirairs BlackBerry. Zwei Stühle standen im Raum - einer vor dem Schreibtisch, einer dahinter -, Freischwinger aus Metall und schwarzem Leder. An der Decke zerteilte ein Ventilator mit trägen Schlägen die Luft. Es war ein sehr leeres Zimmer, in dem jeder Laut widerhallte, in dem harte, klare Linien vorherrschten und auf alles nicht unbedingt Nötige verzichtet worden war.
Nikki nahm vor dem Computer Platz und drückte die Leertaste. Der Bildschirmschoner verharrte einen Augenblick und verschwand. Ratlos starrte Nikki auf das Anmeldefens - ter. Woher sollte sie wissen, wie Sarkassians Benutzername und Passwort lauteten? Sie rief sich in Erinnerung, was sie während des Trainings in den Computerkursen gelernt hatte. Benutzernamen waren oft eine Kombination aus Vorund Nachname - die häufigste Variante war der erste Buchstabe des Vornamens sowie der Nachname. Also tippte sie JSarkassian in das Feld Benutzername, drückte Enter und landete beim Passwort. Plötzlich setzte neben ihr ein laut lärmendes Geschepper ein, und Nikki wäre vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Jirairs BlackBerry war auf Vibrationsalarm gestellt und klackerte auf der Glasplatte. Ein Blick auf das BlackBerry, und Nikki kam ein Geistesblitz. Sie tippte die Buchstaben ein, die sie Sarkassian in Kanada in sein BlackBerry hatte tippen sehen.
»H - i - c. Lateinisch für hier. E - t: und. N - u - n - c. Jetzt.« Nach dem letzten Buchstaben drückte sie siegesgewiss auf Enter. Sie fand, dass Latein eine ungewöhnliche Wahl für Sarkassian war, und fragte sich, was dieses Passwort wohl für ihn bedeutete.
Das Anmeldefenster verschwand, der Desktop erschien. Nikki klopfte sich auf die Schulter. Der Desktop sah ebenso spartanisch aus wie das Büro. Keine Dokumente mit so verheißungsvollen Namen wie »Top Secret« oder »Perfider Plan, Variante A« tummelten sich auf dem Bildschirm. Bis sie auf der Festplatte fündig geworden wäre, könnte es eine Weile dauern. Also steuerte Nikki geradewegs die E-Mails an.
Von
[email protected] waren etliche Nachrichten im Posteingang, und Nikki klickte auf die neueste. »Corey« klang nicht gerade nach einem eiskalten Mafioso. Eher nach einem abtrünnigen Bandmitglied der New Kids on the Block, und Nikki fragte sich, was für schmutzige Geschäfte Sarkassian mit einem Corey machte.
»Dreißig Stück wären perfekt«, schrieb Corey. »Ich vertraue auf beste Qualität, aber Sie schicken ja stets nur frische Ware. Den vereinbarten Betrag überweise ich: die Hälfte jetzt, den Rest nach Erhalt. Victor wird sich wie gewohnt um alles kümmern?«
Gerade wollte Nikki die vorhergehende Mail anklicken, um herauszufinden, was mit »frischer Ware« gemeint war, als sie von der Treppe her Stimmen und Schritte hörte. Sie schloss das E-Mail-Programm, rannte zur Tür und wollte in eines der benachbarten Zimmer flüchten. Aber Sarkassian war schon fast oben und würde sie sehen, wenn sie jetzt über den Flur lief. Hinter ihm polterten zwei stämmige Männer die Treppe hinauf, zwischen sich Amein, den Pfleger aus Lawans Klinik, der aussah, als befände er sich auf dem Weg in die Höhle des Löwen. Wahrscheinlich steuerten sie Sarkassians Büro an, und da ihr keine andere Wahl mehr blieb, sprang Nikki in den Kleiderschrank.
»Macht die Tür zu«, befahl Sarkassian, ließ sich in den
Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen und knallte den Laptop zu.
Vorsichtig spähte Nikki durch die Lamellen der Schranktür und sah den Krankenpfleger sichtlich nervös vor dem Schreibtisch stehen. Einer von Sarkassians Schlägern lehnte lässig an der Tür, der andere fläzte sich in dem zweiten Stuhl.
»Wo ist Victor?«, fragte Sarkassian und rückte den Korb mit Schreibutensilien zurecht, bis er sich in exakt rechtem Winkel zur Tischkante befand.
»Weiß ich nicht«, antwortete der Krankenpfleger.
»Amein«,