Lizenz zum Kuessen
großen Eisentore den Lieferwagen eines Blumenhändlers stehen.
»Tja, weiß ich auch nicht«, hörte sie den Fahrer sagen und sah ihn hinter dem Wagen hervorkommen. »Ich kann Ihre Sauklaue nicht lesen.« Er telefonierte und klang ziemlich genervt. »Nein, ich kann hier niemanden fragen.« Der Fahrer sah auf und entdeckte Nikki. »Nein, warte mal, da kommt
jemand. Ich frage sie mal eben. Ja, ich rufe dann gleich zurück.« Er steckte sein Handy ein und lächelte Nikki an, als sie näher kam.
»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er. »Ich soll hier eine Lieferung machen, aber vorne an der Tür öffnet niemand. Könnten Sie mir vielleicht helfen?«
Nikki nickte, warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und runzelte die Stirn. Eigentlich müsste jemand im Haus sein - die Prüfung war um halb neun. Oder hatte sie wieder ihre Termine durcheinandergebracht?
»Ich müsste zu Mrs …« Der Fahrer klopfte seine Hosentaschen ab. »Moment. Ich muss den Zettel im Wagen gelassen haben«, meinte er und lächelte entschuldigend. »Oder warten Sie mal - auf den Kartons steht es auch. Vielleicht können Sie das ja besser entziffern als ich.« Er lief um den Wagen herum, und Nikki folgte ihm.
Er fasste den Türgriff hinten am Wagen, riss beide Türen auf und sprang beiseite, so dass Nikki plötzlich allein vor dem geöffneten Heck stand. Kaum dass ihr bewusst wurde, dass in dem Wagen überhaupt keine Kartons standen, sondern etliche schwarz vermummte Gestalten, wurde sie auch schon von einem feinen Sprühnebel eingehüllt und atmete eine ordentliche Portion Pfefferspray ein.
Ihre Augen brannten und tränten, sie fing an zu husten, rang nach Atem und krümmte sich keuchend. Der Fahrer des Lieferwagens schnappte sie sich und verfrachtete sie in den Wagen. Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, war sie gefesselt, und die Augen wurden ihr verbunden. Sie kam sich vor wie ein Truthahn auf dem Weg zum Schafott.
»Okay, das wäre Nikki.«
Nikki hörte das leise Kratzen eines Stiftes auf einem Klemmbrett und erkannte Mrs Boyers Stimme.
»Willkommen zur letzten Prüfung.« Mrs Boyer klang für ihre Verhältnisse geradezu vergnügt. Nikki war derweil vollauf mit Husten beschäftigt.
Im Wagen herrschte Stille, und zwischen ihren Hustenanfällen konnte sie das Geräusch von Reifen auf Asphalt hören. Zuerst wollte sie eine Erklärung verlangen, dann entschied sich aber dagegen. Fragen zu stellen wäre reine Energieverschwendung. Mrs Boyer war nicht gerade dafür bekannt, Fragen zu beantworten.
Nikki merkte, dass der Wagen wendete, doch brachte ihre Beobachtung ihr herzlich wenig, da sie vor diesem Wendemanöver mehr damit beschäftigt gewesen war, wieder zu Atem zu kommen, als auf die Fahrtrichtung des Wagens zu achten. Es konnte genauso gut sein, dass sie einfach zweimal um den Block gefahren und nun auf dem Rückweg zur Ranch waren.
»Die letzte Prüfung«, begann Mrs Boyer, als sie offensichtlich fand, die Zeit für Erklärungen wäre reif, »ist eine praktische Prüfung, die innerhalb einer bestimmten Zeit zu bewältigen ist. Ich werde jetzt einen SOS-Sender an Ihrem Kragen befestigen. Wenn Sie zu irgendeinem Zeitpunkt die Übung beenden möchten oder Hilfe benötigen, drücken Sie einfach auf den Knopf, und Sie werden abgeholt.« Nikki spürte, wie ein ein hartes, rundes Plastikteil - ähnlich denen, die in Klamottenläden als Diebstahlsicherung dienten - an ihrem Kragen befestigt wurde. »Man wird Sie in einiger Entfernung von der Ranch aussetzen. Sie haben dann genau drei Stunden Zeit, um zurück in die Lobby des Hauptgebäudes zu gelangen. Sollten Sie von Ihrem Notruf Gebrauch machen oder nach der veranschlagten Zeit eintreffen, sind Sie durchgefallen. Sie dürfen sich aller erdenklichen Mittel und Methoden bedienen, um zurück zur Ranch zu gelangen, aber
denken Sie bitte daran, dass unverhältnismäßige Gewaltanwendung oder unnötige Beschädigung von Eigentum zu Punktabzug führen. Carrie-Mae-Beraterinnen sind entlang der Strecke postiert und dürfen Sie abfangen. Sie sollten sich also nicht von Ihnen erwischen lassen. Die Kolleginnen tragen keine Firmenschilder auf der Brust und werden sich Ihnen nur persönlich zu erkennen geben. Es könnte auch sein, dass Sie unterwegs anderen Trainees begegnen - Sie dürfen sich weder mit ihnen zusammentun noch sie vorsätzlich behindern.«
Der Wagen fuhr holpernd vom Asphalt auf eine Schotterstraße. Nikki konnte das Knirschen der Steinchen unter den Reifen hören, ab und an flogen auch
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