Lizenz zur Zufriedenheit
als der zuvor genannte Griff zum Zollstock oder ans Gemächt.
Und wie steht es schließlich um Aussagen nach Art von: „Ich bin ein netter Mensch“? Worauf stützt sich eine solche Aussage, wie lässt sie sich nachweisen? An dieser Stelle verlassen wir endgültig die Welt des Faktischen 192 und begeben uns in das Reich der „Modelle“: Annahmen, Glaubenssätze und Zuschreibungen über „die Welt“. Bin ich, Nico Rose, ein netter Mensch? Ich könnte Ihnen auf Anhieb eine ganze Reihe von Menschen nennen, die dies wohl bejahen würden. 193 Viele Menschen halten mich z. B. für recht hilfsbereit: Ich gebe mein Expertenwissen gerne und viel über das Internet preis, beantworte in sozialen Netzwerken wie XING kostenlos Fragen, wo andere zunächst die Hand aufhalten. Andererseits: Ich kann Ihnen ohne Probleme einige Menschen nennen, die mich auf ihrer persönlichen Riesenarschloch-Liste wahrscheinlich ziemlich weit oben links führen. Z. B. Frauen, die ich in meiner jugendlichen Sturm- und Drangphase nicht eben hochanständig behandelt habe. Andererseits: Was weiß ich denn schon? Vielleicht haben sie mir auch schon lange wieder verziehen? Es zeigt sich hier: Zu welchem Ergebnis andere Menschen (und natürlich auch ich selbst) bei dieser Einschätzung kommen, hängt hochgradig davon ab, a) welche konkreten Erfahrungen dafür herangezogen werden; und b) was dem Bewertenden überhaupt als Kriterium für den Beweis von Nettigkeit genügt.
Das Lebensgrundgefühl: Was kann „einer wie ich“ vom Leben erwarten?
Bringen wir nun das Wissen um a) Modelle der Welt, b) unseren Widerwillen, einmal gefasste Meinungen zu ändern, und c) sich selbst erfüllende Prophezeiungen zusammen und stellen uns folgende Frage: Wenn unsere Erwartungen und Glaubenssätze über andere Menschen solch starke Wirkungen auf eben jene Individuen zeitigen können: Wie durchdringend müssen dann erst die Überzeugungen bezogen auf uns selbst wirken? Und was, wenn man nicht nur glaubt, man sei schlecht in einem abgegrenzten Gebiet wie z. B. Mathematik? 194 Was, wenn ein Mensch auf einer sehr grundlegenden Ebene glaubt, dass er unfähig oder nicht liebenswert ist? Oder: Dass diese Welt grundsätzlich ein schlechter Ort ist? Oder: Dass es ihm nicht erlaubt ist, glücklich und zufrieden zu sein? 195
Die psychologische Grundlagenforschung ist seit einiger Zeit auf der Suche nach solchen Kernglaubenssätzen, nach diesen „Eisbergen“ 196 unserer Befindlichkeit, der Quintessenz unseres Lebensgrundgefühls. Heißer Kandidat hierfür ist das Konzept der „zentralen Selbstbewertung“ (im Englischen: Core Self‐Evaluation). 197 Diese Persönlichkeitsdimension setzt sich aus vier weiteren Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, die schon viele Jahrzehnte bekannt sind, bis dato aber in erster Linie separat betrachtet wurden:
Selbstwert
Selbstwirksamkeit
Kontrollüberzeugung
emotionale Stabilität (bzw. Neurotizismus)
Der Selbstwert bezeichnet die gesamthafte übergreifende Bewertung der eigenen Person. Hohe Selbstwirksamkeit kennzeichnet sich durch ein subjektives Gefühl von situationsübergreifender Kompetenz, also durch das Gefühl, über verschiedenste Lebensbereiche hinweg erfolgreich agieren zu können. Kontrollüberzeugungen beschreiben, inwieweit ein Mensch die Ereignisse in seinem Leben auf interne (z. B. die eigene Leistungsfähigkeit) oder externe Faktoren (z. B. Glück oder Zufall) zurückführt. Emotionale Stabilität schließlich ist die positive Ausprägung der Big-Five-Dimension Neurotizismus. Menschen mit hoher Neurotizismus-Ausprägung neigen u. a. zu erhöhter Ängstlichkeit und Unsicherheit. Menschen mit niedriger Neurotizismus-Ausprägung (= hohe emotionale Stabilität) sind hingegen tendenziell ausgeglichen und selbstsicher.
Diese vier Persönlichkeitsmerkmale sind, wie gesagt, wohlbekannt und gut untersucht in der akademischen Psychologie. Erst viel später kamen einige Forscher auf die Idee, dass jene Eigenschaften letztlich nur die „Zutaten“ einer Persönlichkeitsdimension höherer Ordnung sind: eben jener zentralen Selbstbewertung. Menschen mit positiver zentraler Selbstbewertung zeichnen sich durch ein hohes Selbstwertgefühl, hohe Selbstwirksamkeit, interne Kontrollüberzeugungen und geringe Neurotizismus-Werte aus. Mittlerweile konnte vielfach nachgewiesen werden, dass Menschen mit positiver zentraler Selbstbewertung im Mittel deutlich zufriedener mit ihrem Leben allgemein und insbesondere zufriedener am Arbeitsplatz sind.
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