Lob der Faulheit
der dunklen Seite der Disziplin spreche, ist das eigentlich eine Tautologie; denn man kann sie drehen, wie man will: Sie ist in jeder Hinsicht negativ. Disziplin wird jedoch häufig mit Willensstärke in einem Atemzug genannt. Beide bilden eine Art Zwillingspaar.
Faulen Menschen wird vorgeworfen, sie hätten keine Disziplin und ihr Wille sei schwach. Deshalb möchte ich untersuchen, ob Willensstärke erstrebenswert ist.
Es ist fraglich, ob der Wille stark bzw. schwach sein kann. Das hängt von der Definition ab. Sieht man ihn als die Fähigkeit, sich für eine bestimmte Handlung zu entscheiden, macht die Vorstellung von Stärke wenig Sinn. Fähigkeiten sind vorhanden oder nicht. Sie stellen ein Potenzial dar. Beispielsweise haben Vögel die Fähigkeit zu fliegen, Menschen ohne Hilfsmittel nicht. Von Fähigkeiten, soweit vorhanden, kann man Gebrauch machen oder nicht. Mit Stärke hat das alles nichts zu tun.
Soweit Menschen geistig gesund sind, haben sie einen Willen. Ob sie ihn gebrauchen, hängt von ihrer Motivation ab. Wenn sie einen guten Grund zum Handeln haben, werden sie es tun.
Sonst nicht. Keine Spur von Stärke oder Schwäche. Der Begriff »Willensstärke« suggeriert einen Sachverhalt, der nicht vorhanden ist.
Der Wille wird oft mit einem Muskel verglichen. Man könne ihn angeblich trainieren. Von dieser Analogie leitet sich ab, dass man den Willen anspannen oder anstrengen könne. Der Vergleich ist jedoch irreführend. Muskeln sind der physischen Welt zuzuordnen. In dieser sind Kraft und Energie die Mittel, um etwas zu bewegen. Der Wille gehört dagegen der geistigen Welt an. Kraft und Energie spielen hier keine Rolle. In ihr kommt es auf Bewusstheit, Motivation, Vorstellungsvermögen und Ähnliches an. Davon wird der Wille bestimmt, nicht von Stärke.
Mit dem Willen verbindet sich ein weiterer Irrtum. Es wird behauptet, man könne gegen seinen Willen handeln. Das stimmt nicht; denn egal wie man sich entscheidet und aus welchen Motiven: Es bleibt doch immer eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Wer mit vorgehaltener Waffe gezwungen wird, etwas zu tun, macht immer noch von seiner Fähigkeit Gebrauch, sich zu entscheiden. Lediglich die Auswahl an möglichen Handlungen ist extrem eingeschränkt. Erst wenn jemand mit Gewalt festgehalten oder weggetragen wird, endet der Wille. Dann gibt es nichts mehr zu entscheiden. Allerdings stehen selbst in diesem Fall noch Entscheidungen bezüglich der Gedanken und Gefühle offen. Man kann mental und emotional immer noch so oder so reagieren. Nur die Handlungsfreiheit ist begrenzt.
In jeder Situation kann man den Willen vergegenwärtigen und in voller Klarheit ausüben. Welche Möglichkeiten sehe ich hier?
Wie denke ich darüber? Wie möchte ich mich fühlen? Was werde ich tun? Wer von seinen Wahlmöglichkeiten Gebrauch macht, besitzt in den Augen der anderen einen starken Willen. In Wirklichkeit ist derjenige sehr bewusst.
Einige glauben, wenn sie einer Versuchung widerstehen oder an einer einmal getroffenen Entscheidung gegen alle Widerstände festhalten, sei dies ein Zeichen ihres starken Willens. Tatsächlich handelt es sich um ein Kalkül. Sie ziehen das Eine dem Anderen vor. Der Versuchung nachzugeben ist – warum auch immer – nicht verlockend genug. Bei einer getroffenen Entscheidung zu bleiben, genießt offensichtlich Priorität. Nicht mehr und nicht weniger.
Faule sind keineswegs willensschwach. Sie machen von ihren wahrgenommenen Entscheidungsmöglichkeiten genauso Gebrauch wie alle anderen. Oft gefällt anderen nur nicht, wie die Müßiggänger sich entscheiden. Umgekehrt sind fleißige, disziplinierte Menschen nicht willensstark. Sie bilden sich nur etwas darauf ein, dass sie sich knechten.
Der »eiserne« Wille mag eine nette Metapher sein. Es steckt bloß nichts dahinter.
Und der »Triumph des Willens«? Das war von den Nazis nur ein Ausdruck ihrer raffinierten Propaganda und ihrer Entschlossenheit, die Welt zu erobern. Der Triumph war kurzlebig. Er endete bekanntlich mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs.
Dass der Wille keine Stärke voraussetzt, aber Kraft erzeugen kann, belegt das folgende Beispiel sehr eindrucksvoll. Viktor E.
Frankl, ein jüdischer Wiener Arzt, der verschiedene Konzentrationslager überlebte, hat über seine Erfahrungen das bewegende Buch »... trotzdem Ja zum Leben sagen« geschrieben. Darin schildert er mehrere psychologische Faktoren, die ihm geholfen
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