Lob der Faulheit
nicht als Besserungsanstalten zu konzipieren. Kinder sind nicht defizitär. Ihnen müssen keine Schwächen ausgetrieben werden. Fehler zu erlauben, wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu menschengerechten Schulen. Die SchülerInnen würden klüger, wenn die LehrerInnen fauler wären. Im Moment werden so unendlich viele Kräfte verschwendet. Der Fleiß, der in die Entwicklung von Lehrplänen gesteckt wird, ist vergeblich (learning happens while you’re busy making other plans). SchülerInnen könnten sich, wenn nötig, gegenseitig korrigieren. Sie wären engagierter, wenn sie ihre Entwicklung selbst organisieren dürften. Meine Schulzeit hatte ihre besten Momente, als wir freiwillig und spielerisch lernten.
Eine gerechtere Justiz
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Bundesrepublik Deutschland wiederholt gerügt, weil die Verfahren vor den Gerichten zu lange dauern. Es können sechs, 13 oder auch mal 29 Jahre ins Land gehen, bevor das Ende eines Prozesses abzusehen ist.
Die durchschnittliche Verfahrensdauer vor den Amtsgerichten beträgt in Zivilsachen sieben Monate. Werden Rechtsmittel vor den Land- und Oberlandesgerichten eingelegt, kommen noch einmal acht bzw. zehn Monate dazu. Das summiert sich alles in allem auf ca. zwei Jahre.
In Familiensachen muss man vor den Amtsgerichten im Durchschnitt mit zehn Monaten und in der zweiten Instanz mit 20 Monaten rechnen. Bis die Scheidung durch ist, vergehen also rund zwei bis drei Jahre, wohlgemerkt: im Durchschnitt. Sprechen Sie mal ScheidungsanwältInnen auf ihre dickeren Prozessakten an. Dann werden sie nur ein Stöhnen hören.
Über die Verfahrensdauer vor dem Bundesgerichtshof schweigt die amtliche Statistik. Es scheint aber so zu sein, dass die Revision etwa ein Jahr in Anspruch nimmt. Geht dem eine Nichtzulassungsbeschwerde voraus (Rechtsmittel vor dem BGH können nicht ohne weiteres eingelegt werden), ist mit ca. zwei Jahren zu rechnen.
Wer prozessiert, sollte also Zeit haben. Geld kann auch nicht schaden; denn die Gerichte und Rechtsanwälte arbeiten natürlich
nur gegen Bezahlung. Bei den Gerichten gilt Vorkasse. Selbstverständlich machen Richter Fehler. Erwarten Sie aber bitte keinen Schadensersatz. Die Justiz genießt ein einzigartiges Privileg. Eine Haftung für fehlerhafte Rechtsprechung ist praktisch ausgeschlossen.
RichterInnen und AnwältInnen sind sehr fleißig. Schriftsätze und Gerichtsurteile können einige Dutzend Seiten umfassen. Das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht seine wichtigsten Urteile ebenso wie die anderen höchsten Gerichte in Buchform. Die Länge dieser Urteile ist im europäischen Vergleich einzigartig und kann sich auch weltweit sehen lassen.
Da ich in einem anderen Leben – oder vielleicht sollte ich besser sagen: in meinem ersten Beruf – Jurist war, kenne ich die Mentalität der Gerechtigkeitsindustrie genau. Einer meiner Ausbilder sagte mir, dass es nicht wichtig sei, ob die richterliche Entscheidung richtig (gerecht!) sei, sondern entscheidend, wie sehr man sich dabei angestrengt habe.
Dieser Jurist war nicht irgendein kleiner Amtsrichter (nichts gegen AmtsrichterInnen!), sondern stand in der Justizhierarchie ganz oben. Er empörte sich regelmäßig über einen Richter der ersten Instanz, dessen Urteilsbegründungen selten länger als eine halbe Seite waren. Mir gefiel die Courage des »Kurzschreibers«; denn er sagte in wenigen Worten, was andere auf Dutzenden von Seiten nicht zustande brachten. Dazu muss man wissen, dass die tragenden Gründe einer Entscheidung stets nur wenige Sätze umfassen. Wer mit wenigen Worten nicht überzeugen kann, schafft es auch mit vielen nicht. Jeder über die tragenden Gründe hinausgehende Satz ist nur schmückendes Beiwerk. Aber deutsche JuristInnen sind gerne fleißig.
Ach, wenn es doch der Wahrheitsfindung dienen würde! Leider ist es in vielen Fällen nur blinder Aktionismus.
Für Rechtsanwälte sind langwierige Prozesse ein Verlustgeschäft. Ihre Gebühren werden nicht höher, wenn ein Verfahren lange dauert. Richter dagegen erhalten am jedem Ersten ihr ansehnliches Gehalt. Ob die RichterInnen schneller verhandeln würden, wenn ihr Einkommen davon abhinge?
Ich plädiere nicht dafür, »kurzen Prozess« zu machen. Aber der Europäische Gerichtshof hätte weniger zu tun, wenn die deutschen Richter im positiven Sinne fauler wären. Da sie so viel arbeiten, denken sie zu wenig über Gerechtigkeit nach. Dazu fehlt
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