Lockende Versuchung
schmalen Pfad zu einer versteckten Ecke der Umgrenzungsmauer und lehnte sich dort an die von der Abendsonne erwärmten Steine. „Es ist irgendetwas mit Julianna, nicht wahr? Heraus mit der Sprache.“
„Sie hat den Verstand verloren, Onkel“, platzte Crispin zornig heraus. „Die kleine Närrin bildet sich ein, in irgendeinen anderen Kerl verliebt zu sein, und hat es doch rundheraus abgelehnt, mich zu heiraten.“
„Bist du sicher, dass sie einen anderen liebt?“
„Sie hat es mir ja ins Gesicht gesagt.“ Crispin verzog geringschätzig die Lippen. „Weibervolk!“
„Und wer ist es?“, erkundigte sich Edmund scheinbar gelassen, während er im Innern davon überzeugt war, dass es sich nur um Laurence handeln konnte.
„Das ist ja das Schlimmste! Sie sagt es nicht. Auf irgendeine Art und Weise hat sie die Annullierung zu Fall gebracht. Das wirst du ja schon noch früh genug erfahren.“
„Das … das begreife ich nicht. Will sie denn nicht frei sein, um L… den anderen heiraten zu können?“
„Lieber Onkel Edmund!“ Erschüttert über soviel Weltfremdheit schüttelte Crispin den Kopf. „Siehst du nicht, dass sie es auf dein Vermögen abgesehen hat? Ihr neue Galan plant sicher schon einen passenden Unfall für dich, nach dem er dann die schöne und vor allem reiche Witwe gebührend trösten kann.“
„So etwas glaube ich nicht von Julianna. Aber ich danke dir dennoch für deine Warnung.“ Edmund legte dem Neffen tröstend die Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Kann ich etwas für dich tun?“
In Crispins Augen glänzte ein Hoffnungsschimmer auf. „Sprich du doch noch einmal mit ihr. Bringe sie zur Vernunft. Du bist doch so eine Art Vater für sie. Vielleicht kannst du sie davon überzeugen, dass sie mich in die Südsee begleiten soll.“
Edmund schwieg nachdenklich. Schwer genug war es ihm gefallen, sich mit der Tatsache abzufinden, dass er Julianna an seinen geliebten Neffen verlor. Der Gedanke aber, dass andessen Stelle irgendein unwürdiger Kerl treten sollte, erschien ihm unerträglich. Vielleicht konnte er den Lauf der Dinge tatsächlich aufhalten? Vielleicht würde sie auf seinen Rat hören …
„Nein, Crispin, das kann ich nicht tun. Julianna hat das Recht, auf ihre Art glücklich zu werden. Und wenn sie glaubt, dass ihr das mit dir nicht möglich ist, werde ich ihr nicht dreinreden.“
„Bitte, Onkel Edmund! Du bist meine einzige Hoffnung.“
Edmund legte den Arm um die Schulter des Neffen.
„Eine Frau, die nicht aus eigenem Entschluss ihr Leben mit dir teilt, kann dir kein Glück geben. Aber ich bin sicher, dass du dir das selbst schon gesagt hast. Nun geht es also bald wieder zurück in die Südsee?“
„Je eher, desto besser. Ich werde viel Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen. Versprichst du mir etwas?“
„Alles, wenn ich es halten kann.“
„Pass auf sie auf. Lass sie keinen Fehler machen, den sie später bereut.“
„Fehler sind ein Teil unseres Daseins. Es kommt darauf an, was wir aus ihnen lernen und wie wir letztendlich unser Leben einrichten. Zumindest glaube ich das. Aber ich versichere dir, dass ich immer für sie zur Verfügung stehen werde – wenn sie es möchte.“
„Vanessa, was ist?“, rief Julianna erschrocken.
Die Countess saß wie erstarrt in einem der hochlehnigen Armstühle und hielt einen Brief in den zitternden Händen.
„Von Laurence“, sagte sie tonlos. „Er erteilt mir Generalvollmacht für die Regelung aller seiner Angelegenheiten, bis er zurückkehrt.“
„Bis er zurückkehrt? Wo ist er denn hingefahren?“
„In die Südsee!“ Vanessa machte noch immer einen verstörten Eindruck. „Er ist mit Crispin auf und davon. Gott weiß, wann er wiederkommt.“
Julianna strich ihr begütigend über den Arm. „Sieh doch auch die gute Seite davon. Colonel Harcourt wird ihn kaum bis in die Südsee verfolgen, um Satisfaktion zu erhalten.“ Seit Tagen hielt sich beharrlich das Gerücht von einem bevorstehenden Duell zwischen den beiden Männern.
„Vermutlich hast du damit recht“, räumte Vanessa ein. „Aber dass er mir kein Wort davon gesagt hat! Nicht einmal verabschiedet hat er sich.“
„Ich glaube, so eine Reise in die Südsee ist genau das Richtige, um einen Mann aus ihn zu machen“, erwiderte Julianna. „Er wird Abenteuer zur Genüge zu bestehen haben und froh sein, wenn er sich danach irgendwo für immer niederlassen und ein respektables Leben führen kann.“ Verschmitzt lächelnd
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