Lockende Versuchung
darauf an, wann ihre Zeilen in Caer Gryffud eintrafen? Weihnachten hatte ja doch nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher.
Vater pflegte zu seiner Zeit immer ein großes Fest daraus zu machen. Gäste wurden eingeladen und vergnügliche Unterhaltungen geplant … Langsam rollte eine Träne über Juliannas Wange. Wie schön war es doch gewesen, Weihnachtseinkäufe zu machen und Ausflüge zu arrangieren. Und dann die Weihnachtssinger und der Festpunsch … Nun flossen die Tränen unaufhörlich, und Julianna fehlte die Kraft, sich gegen ihren Kummer zu stemmen. Verzweifelt ließ sie den Kopf auf ihre Arme sinken und schluchzte bitterlich.
Mit langen Schritten ging Sir Edmund auf dem Korridor vor Juliannas Zimmertür auf und ab und schalt sich dabei einen jämmerlichen Feigling. Schließlich machte es ihm nichts aus, tagtäglich im Chapterhouse nach einer Pfeife Tabak und einer Tasse Kaffee mit den gelehrtesten Männern von England zu disputieren. Warum zum Teufel zögerte er also, mit seiner eigenen Frau zu sprechen? Wann immer er sich Julianna nur auf zehn Fuß näherte, überfiel ihn eine unverständliche Befangenheit, und er brachte kaum mehr als eine nichtssagende Bemerkung über die Lippen. So sah er sich denn immer wieder gezwungen, seine Verwirrung hinter der Maske kühler Zurückhaltung zu verbergen.
Nur ein einziger Mensch hatte es bisher fertiggebracht, ihn solchermaßen zu verunsichern. Als Knabe war er ständig zwischen dem Wunsch, seinem abweisenden, kritischen Vater zu gefallen, und der niederdrückenden Gewissheit, dass es ihm ohnehin nicht gelingen würde, hin und her gerissen worden. Wie schaffte es aber diese Handvoll von einem Mädchen, ihn derart seinerSprachfertigkeit zu berauben? Vielleicht lag es daran, dass er einfach nicht begreifen konnte, warum in ihren merkwürdig goldbraunen Augen immer ein Ausdruck von Sehnsucht und Enttäuschung lag?
Sir Edmunds Schritte wurden schneller. Was, um alles in der Welt, erwartete Julianna eigentlich noch von ihm? Er hatte sie doch mit allem überschüttet, wonach ihm seine erste Frau ständig in den Ohren gelegen hatte: ein schönes Haus, Kutschen, Diener, Geld. Seine Gesellschaft bürdete er ihr so wenig auf, wie es die Schicklichkeit erlaubte. Und? Wusste es diese törichte junge Person alles das zu schätzen, was er für ihre Sicherheit und Behaglichkeit tat? Nein! Sie schlich wie ein Gespenst durch die Räume, sprach kaum ein Wort und aß nicht mehr als der Spatz.
Seit der Hochzeit hatte er nicht mehr das Gefühl, in seinem eigenen Hause zu sein, denn das Mädchen lief ständig hinter ihm her wie ein verlaufenes Kätzchen und sah ihn vorwurfsvoll an. Selbst in das Heiligtum seiner Bibliothek war Julianna schon eingedrungen. Vielleicht würde sie ihn gar noch bis in sein Schlafzimmer verfolgen? In nur zwei Monaten hatte sie auf diese Weise seine Geduld schon fast erschöpft. Wie sollte das erst zwei endlos lange Jahre fortdauern? Crispin musste, verdammt noch einmal, sein Opfer besser zu schätzen wissen!
Vor Juliannas Tür angelangt, reckte Sir Edmund energisch die Schulter. Wenn er dieses Gespräch jetzt auf sich nahm, würde er sich wenigstens eine kleine Atempause verschaffen, denn er wollte das Mädchen über die Feiertage zu seinen Verwandten schicken und damit für kurze Zeit seine geliebte Ruhe zurückerlangen. Vielleicht fand Julianna sogar Gefallen an Besuchsreisen und würde nach und nach gänzlich wegbleiben.
Als er die Hand auf die Klinke legen wollte, vernahm er gedämpftes Schluchzen hinter der Tür. Zur Hölle mit allen Weibern und ihren Tränen! Zu seiner Zeit hatte er es mit holländischen Söldnern, Piraten und Kopfjägern aufgenommen … Mit einem unterdrückten Fluch ließ er die Hand sinken und war gerade dabei, sich wieder zurückzuziehen, als er am Ende des Ganges Mordecai Brock erblickte. Um vor dem alten Haushofmeister keine lächerliche Figur zu machen, klopfte er nun doch energisch an die Tür.
Drinnen fuhr Julianna erschrocken auf, wischte sich hastig mit dem Spitzenbesatz am Ärmel die Tränen ab und eilte zur Tür, um sie zum ersten Male seit ihrer Hochzeitsnacht wieder für Sir Edmund zu öffnen.
„Ist es erlaubt einzutreten?“, erkundigte sich ihr Gemahl höflich. „Ich würde gern etwas mit dir besprechen.“
Ob Mr Brock wohl schon geplaudert hat, fragte sich Julianna rasch und beeilte sich dann zu beteuern: „Aber gewiss, Sir Edmund. Setzt Euch hier neben den Kamin. Bei der feuchtkalten Luft draußen ist es
Weitere Kostenlose Bücher