Lockende Versuchung
Julianna neugierig.
„Ja, und die beiden Knaben kamen auch noch im Abstand von nur wenigen Wochen zur Welt. Als sie Kinder waren, wurden sie immer für Zwillinge gehalten. Heute kreuzen sich meine Wege nur noch sehr selten mit denen von Laurence. Er beehrt Bayard Hall auch nur noch zur Jagdsaison im Herbst mit seiner Gegenwart.“
Julianna hätte gern den vermeintlichen Zwilling von Crispin kennengelernt und war gerade dabei, Sir Edmund um weitere Auskünfte über den jetzigen Lord Marlwood zu bitten, als ihr Begleiter erfreut ausrief: „Da vorn ist Abbot’s Leigh! Der alte Kasten sieht immer noch aus wie in meiner Kindheit.“
Im Gegensatz zu Bayard Hall wies Abbot’s Leigh auch nicht die geringste Symmetrie auf. Es bestand aus einem niedrigen Haupthaus mit einem höheren Anbau an einer Seite. Vier kleinere Vorbauten an der Vorderfront wirkten wie Triebe, die aus einem Baumstumpf gesprossen waren. Zahllose Efeuranken kletterten an den behauenen Steinen empor.
Park und Garten machten einen ebenso vom Zufall bestimmten Eindruck wie das Gebäude. Die Anordnung der Bäume, Hecken und Blumenbeete ließen keinerlei Schema erkennen. Und doch fand Julianna das altehrwürdige Anwesen beeindruckender und reizvoller als das elegante Bayard Hall, das im Vergleich dazu nichtssagend und künstlich wirkte.
Als die Kutsche an einem Seiteneingang vorfuhr, wurde sie von einem etwas albern lächelnden Mr Brock erwartet, der hinter einem Lehnstuhl mit Rädern stand. Entsetzt wappnete sich Julianna für einen Zornesausbruch von Sir Edmund.
Doch zu ihrer Überraschung rief dieser erfreut aus: „Großmutters Stuhl! Ich habe diese drollige Konstruktion seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wo hast du ihn aufgetan, Brock?“
Erleichtert atmete der Haushofmeister auf. „Mrs Tully brachte mich auf die Idee, als sie davon sprach, dass die alte Lady Marlwood jahrelang damit durch Haus und Garten gefahren wurde. Daraufhin habe ich alle Dachkammern durchwühlt, bis ich den Stuhl gefunden hatte.“
Lächelnd schüttelte Sir Edmund den Kopf. „Als Kind habe ich mir oft gewünscht, damit fahren zu dürfen. Wer hätte gedacht, dass es mir nun nach so langer Zeit ermöglicht wird.“
„Ihr müsst mir mehr von ihr erzählen“, bat Julianna. „Habt Ihr ein Bild von ihr?“
„Gewiss, und noch viele andere. Aber die Betrachtung der alten Familienporträts und das Geschichtenerzählen können wir uns für einen Regentag aufheben. Bis dahin leiht Ihr mir wohl Euern starken Arm, Mr Brock?“
Als Julianna die von vielen Tritten blank gewetzte Schwelle von Abbot’s Leigh überschritt, empfing sie ein anheimelnder Geruch nach Bienenwachs, getrocknetem Lavendel und altem Holz. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, nach Hause zu kommen.
11. KAPITEL
Die Maisonne lachte durch die bleigefassten Scheiben direkt in Juliannas Schlafzimmer. Ihre Strahlen beleuchteten ein gutes Dutzend auf dem Bett verstreuter Kleider und Hauben und die auf dem Toilettentisch aufgetürmten Haarbänder und Kämme. Nur Gwenyths missgelaunte Miene konnten sie nicht aufhellen.
Ärgerlich blickte Julianna in den Spiegel und schüttelte dann einen neuen Frisierversuch des Mädchens auseinander. „Nein, Gwenyth, das geht auch nicht – zu affektiert. Stell dir vor, wie Sir Edmund mich verspotten würde!“
„Was soll ich mir denn noch ausdenken? So viele Möglichkeiten, die Haare zu machen, gibt es doch gar nicht!“ Das Mädchen warf erbost die Bürste auf den Tisch. „Ihr geht doch schließlich nicht zum Empfang beim König, sondern macht nur einen Besuch beim Dorfpfarrer und seiner Frau. Das ist doch kein Grund, ein derartiges Aufhebens zu machen.“
Diese Schimpfkanonade entlockte Julianna nun doch ein Lächeln. „Gwenyth Jones“, drohte sie scherzend, „passt auf, dass Ihr kein solcher Zankteufel werdet wie Mrs Tully.“
Sofort legte sich Gwenyths Unmut, und sie kicherte vergnügt. Schließlich wusste hier in Abbot’s Leigh jeder, dass der eigentliche Herr im Hause die breithüftige Myrtle Tully mit der spitzen Zunge und dem gütigen Herzen war.
„Ach, Gwenyth, ich bin wirklich eine dumme Gans, einen solchen Aufstand wegen eines Besuches bei dem Trowbridges zu machen. Aber es ist schließlich das erste Mal, dass ich mit den Bewohnern von Sir Edmunds Ländereien zusammentreffe, und da möchte ich doch einen guten Eindruck machen – nicht dass es mir darauf besonders ankommt“, fügte sie hastig hinzu, da sie
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