Lockruf Der Leidenschaft
durchquerte Susan den Salon und umarmte Polly mit der gewohnten Herzlichkeit.
Polly erwiderte die Umarmung ebenso begeistert, ehe sie einen Schritt zurücktrat und das Mädchen verwirrt betrachtete.
»Aber das verstehe ich nicht, Susan. Was meinst du damit, Seine Lordschaft hat gesagt, dass du hier bei mir leben sollst?«
»Ich soll mich um dich kümmern«, erklärte Susan, während das Lächeln noch eine Spur breiter wurde. »Seine Lordschaft sagt, du bräuchtest jemanden, der deine Garderobe in Ordnung hält und dir beim Anziehen hilft und so ...« Doch als Susan den Ausdruck auf Pollys Gesicht sah, verstummte sie. »Willst du mich denn nicht hier haben?« In den braunen Augen erschien ein schmerzerfüllter Ausdruck. »Oh, bitte sag so was nicht! Ich soll doch unterm Dach sogar mein eigenes Zimmer bekommen -ganz für mich allein, Polly, stell dir das mal vor! Außerdem soll ich der Hauswirtin helfen, wenn sie mich braucht, und mit dir zum Theater gehen und dir auch dort helfen.« Susans Augen waren kugelrund geworden. »Stimmt es, dass du nun eine berühmte Schauspielerin bist?« »Davon, dass ich berühmt sein soll, weiß ich nichts«, erklärte Polly. »Aber Schauspielerin bin ich, das ist richtig.« Ein bedauerndes Lächeln erschien auf ihren Lippen, als ihr die Unterhaltung zwischen Bridget, der Köchin, und Susan in Lady Margarets Küche wieder einfiel. »Aber willst du wirklich mit einem schamlosen Flittchen von der Art zusammenleben, wie es sie in Covent Garden massenweise gibt, Sue? Mit der Hure Seiner Lordschaft?« Zumindest war dies die Sichtweise, wie Susan sie betrachten würde, wie Polly wohl wusste. Sobald ein Mädchen aus ihrer Gesellschaftsschicht seine Jungfräulichkeit verlor, ohne dafür zuvor den Segen eines Geistlichen erhalten zu haben, wurde sie als Hure gebrandmarkt, welche Umstände auch immer dazu geführt haben mochten. Doch kaum waren Polly diese Worte über die Lippen gekommen, schweifte ihr Blick schuldbewusst zur Tür, als fürchte sie Lord Kincaid dort stehen zu sehen.
»O Gott!«, murmelte Susan. »Seine Lordschaft benimmt sich aber nicht so, als ob du seine Hure wärst, Polly. Er hat zu mir gesprochen, als wärst du eine richtige Dame.«
»Ja. Nun ja, Seine Lordschaft ist eben auch ein richtiger Gentleman«, entgegnete Polly ein wenig bissig. »Und er will nicht begreifen, dass es für jemanden, der früher selbst bloß ein Dienstbote war, ein sehr unangenehmes Gefühl ist, wenn er plötzlich jemanden hat, der ihn bedient.«
Susan machte ein zutiefst betrübtes Gesicht. »Das brauchst du aber bei mir nicht zu haben, Polly, wirklich nicht. Bitte sag ihm nicht, dass du mich nicht willst, bitte! Du hast keine Ahnung, wie es war, seit du weggegangen bist. Lady Margaret hatte nur noch schlechte Laune, es war furchtbar! Schließlich ist Seine Lordschaft ja kaum noch zu Hause, und sie weiß, dass es irgendwas mit dir zu tun hat.«
Polly konnte sich die Situation bildlich vorstellen. So etwas würde sie selbst ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen, und während ihrer eigenen unerfreulichen Zeit in diesem Haushalt war Susan ihr stets eine treue Freundin gewesen.
»Erzähl mir, was alles passiert ist, seit ich euch verlassen habe«, sagte Polly und ging zum Feuer, das trotz des frühlingshaften Sonnenscheins noch immer nötig war, um den kalten Märzwind in Schach zu halten. Sue nahm die Einladung mit Wonne an und fing an zu erzählen, erfüllte den Raum mit ihrer fröhlichen Gegenwart und ließ Polly herzlich über ihre Klatschgeschichtchen lachen.
Es gab keine Frau in Pollys Leben, die sie als Freundin bezeichnen konnte. Zwar gab es Männer wie Killigrew und De Winter, die sie als Freunde bezeichnen würde und denen sie vollkommenes Vertrauen entgegenbrachte. Und in Nick hatte sie alles, was sie sich nur wünschen konnte - zumindest solange sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Doch der Gedanke daran hatte sich schon bei mehr als einer Gelegenheit in ihr Bewusstsein eingeschlichen, um ihre Zufriedenheit zu untergraben. Denn eines Tages würde Nick sich eine Ehefrau nehmen müssen. Doch sie schob diesen unerfreulichen Gedanken ebenso schnell und energisch beiseite wie gewohnt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Sue zu.
Bis zu diesem Moment hatte sie sich nicht eine Sekunde nach der zwanglosen Gesellschaft eines Menschen ihres Alters und Geschlechts gesehnt. Doch als sie sich nun mitten in einer köstlichen Unterhaltung über die Werbungsversuche eines ortsansässigen
Weitere Kostenlose Bücher