Lockruf Der Leidenschaft
er sanft. »Niemand wird dir wehtun. Ich bringe dich selbst hin.«
»Das kannst du nicht!« In ihrer Empörung vergaß Margaret sogar die Unziemlichkeit, ein solches Wortgefecht mit ihrem Schwager im Beisein der Dienerschaft auszutragen.
»Warum sollte ich das nicht können?« Lord Kincaid hob skeptisch eine Augenbraue. »Ich schätze, das kann ich selbst entscheiden, Margaret.« Damit wandte er sich Susan zu. »Du wirst uns begleiten, und auf dem Weg dorthin machen wir noch kurz Halt, um ein paar Kleider einzukaufen. Du wirst schon wissen, was angemessen ist. Anschließend bist du Polly im Badehaus behilflich.«
Susan warf Lady Margaret einen ängstlichen Blick zu, ob es als Ungehorsam gegenüber ihrer Herrin ausgelegt werden würde, wenn sie die Anweisungen des Hausherrn befolgte. Doch Margaret wusste, wann sie sich geschlagen geben musste.
»Wenn du dich unbedingt mit einer solchen Aufgabe belasten möchtest, Schwager, dann will ich dich nicht davon abhalten. Susan wird wissen, welche Kleidungsstücke für ein Mädchen in Pollys Situation angemessen sind.« Damit warf sie Polly einen hasserfüllten Blick zu und eilte aus der Küche.
»Tom, lass den Zweispänner vorfahren«, wies Nicholas den Pagen an. »Susan, besorg einen Mantel oder irgendetwas in der Art und ein paar Holzschuhe für ihre Füße.« Dann verließ auch Nicholas die Küche. Er war sich durchaus im Klaren, dass sein Einschreiten die Lage zwischen Polly und Margaret nicht gerade zum Besseren verändert hatte, andererseits wusste er nicht, was er sonst hätte tun sollen. Also würde er nun, statt den Vormittag in Whitehall mit den nicht allzu anstrengenden Pflichten eines Höflings zu verbringen, mit zwei Hausmädchen durch die Stadt fahren und Wollkleider und Unterröcke kaufen und ein widerspenstiges, von Läusen befallenes junges Ding dazu bringen, sich ins Badehaus zu begeben!
»Gott sei uns gnädig!«, rief Susan, nachdem die Küche sich wieder bis auf die in ihr angestammte Dienerschaft geleert hatte, und musterte Polly mit verwunderter Neugier. »Was hast du bloß für Seine Lordschaft getan? Sonst stellt er sich nie gegen Ihre Ladyschaft, nie.« Sie stieß Polly mit einem anzüglichen Grinsen in die Seite. »Hast ihm wohl 'n bisschen das Bett gewärmt, wie? Da hast du aber ganz mächtig Glück, dass er dich leiden mag!« Bei der Erinnerung an die vergangene Nacht und seine Weigerung, den ihm angebotenen Körper zu nehmen, runzelte Polly die Stirn. »Ich glaube eher nicht, dass er Gefallen an mir gefunden hat«, erwiderte sie aufrichtig und nicht im Geringsten verärgert über die neugierige Art des Mädchens und ihre Schlussfolgerung, die vermutlich jedem als die einzig logische erscheinen würde. »Ich habe ihm nur das Leben gerettet«, gestand sie schließlich, und bei dem Gedanken an diese glückliche Fügung verschwand auch ihr Stirnrunzeln wieder. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig verkneifen, in aller Unbekümmertheit auszuplaudern, dass ihr Lord Kincaid im Gegenzug dafür versprochen hatte, ihr bei der Erreichung ihres ehrgeizigen Lebensziels behilflich zu sein. Denn die Kleidung Lady Margarets, die Art, wie sie sich gab, und die Bemerkung über die Eitelkeiten des Teufels hatten Polly verraten, dass sie im Haushalt einer Puritanerin gelandet war.
Polly war zu einer Zeit groß geworden, als das Land vom Reichsverweser regiert worden war, einer Zeit, in der sämtliche Arten von Festlichkeiten und Vergnügungen als das Werk des Teufels galten und verboten gewesen waren. Das Tragen von farbenfroher und geschmückter Kleidung galt als sündhafte Eitelkeit, die mit dem Pranger und dem Stock bestraft wurde. Erst in den letzten fünf Jahren, seit Charles II. triumphierend aus dem Exil zurückgeholt worden war, hatte die puritanische Herrschaft ihre Vormachtstellung verloren. Genau genommen war das Pendel nun in die entgegengesetzte Richtung geschwungen, und es gab nur wenige Extravaganzen in Kleidung oder Benehmen, die als unstatthaft galten. Folglich war es ein höchst interessanter Umstand, dass Seine Lordschaft, dessen Kleidung und Gebaren von seiner Unterwerfung unter die höfischen Normen zeugten, sein Haus mit einer so glühenden Verfechterin des Reinen und Göttlichen teilte. Andererseits war seit der Herrschaft von Heinrich VIII. nichts Ungewöhnliches mehr daran, wenn zwei Mitglieder derselben Familie ganz unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Art und Weise vertraten, wie man Gott seine Ehrerbietung zu bezeugen
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