Lockruf der Toten / Magischer Thriller
gekidnappt, überfallen, bewusstlos geschlagen oder von bösen Geistern in Besitz genommen zu werden. Zerrissene Bluse? Ruinierter Rock? Vogelnest auf dem Kopf? Ich nenne das Fortschritt.«
Er lachte. Dann fing sein Blick meinen auf, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Er kam näher; seine Hand legte sich unter mein Kinn, warme Finger an der Haut, und er hob mein Gesicht zu sich und beugte sich über mich.
Er strich mir mit dem Daumen über den Wangenknochen, runzelte die Stirn und sah genauer hin.
»Du hast dich da an irgendwas gekratzt.« Er hob die Hand zu der Stelle und zog sie zurück. »Wahrscheinlich sollte ich das nicht berühren. Meine Hände sind schmutzig.«
Ich hielt seinen Blick fest. »Das würde mich nicht stören.«
Er stand da, über mich gebeugt, eine Hand in meinem Rücken, die Finger im Stoff meiner Bluse, die Augen plötzlich dunkel, der Körper angespannt, als kämpfe er gegen den Wunsch an, meine Einladung anzunehmen. Wenn ich jetzt eine Bewegung machte, wäre seine Entschlossenheit dahin. Ich sah es in seinen Augen. Einfach nach oben greifen, ihm die Arme um den Hals legen, mich an ihn drängen, und dann würde ich dieses Feuer wieder sehen, diese Leidenschaft spüren. Keine unerträgliche Taxifahrt zu seinem Hotel, das würde viel zu lang dauern. Eine einzige Bewegung, und er würde mich in die Dunkelheit des Eingangs tragen und –
Ich schluckte mühsam und trat zurück. Wahrscheinlich die schwierigste Entscheidung, die ich jemals getroffen hatte, aber wenn ich diesem Wunsch nachgegeben hätte, wäre am Morgen die Reue gefolgt.
Langsam.
Ganz sicher sein können, dass es das ist, was ich will – was er will.
Während ich mit meinen Schuhriemen hantierte, spähte Jeremy auf die nasse dunkle Straße hinaus, die Schultern gegen die Kälte gestrafft. »Wir sollten dir irgendeinen warmen und trockenen …«
Ein Taxi bog um die Ecke.
Ein Viertellächeln. »Das nun ist die Sorte Magie, die ich wirklich mag.«
Er trat auf die Straße hinaus und winkte es zu uns herüber; dann wandte er sich wieder an mich. »Ich gehe zurück zu dem Laden, vielleicht finde ich Botnicks Spur. Mit etwas Glück geht er nach dieser Begegnung heute Nacht irgendwohin, wo es für uns interessant sein könnte.«
»Bist du sicher? Es könnte …«
»Gefährlich werden?« Seine Mundwinkel zuckten. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde vorsichtig sein.«
Das Taxi hielt. Er öffnete die hintere Tür zur Hälfte, zögerte und sah sich nach mir um. »Wenn du mit mir kommen willst … Ich habe damit nicht gemeint …« Eine Handbewegung zu dem Auto hin. »Ich versuche dich nicht loszuwerden. Ich dachte einfach, du hast wahrscheinlich genug …«
»Wenn du mich brauchen könntest, würde ich mitkommen. Aber Fährten sind dein Spezialgebiet. Ich wäre dabei nur im Weg.«
Ich glitt an ihm vorbei auf den Rücksitz.
Er beugte sich vor und strich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist niemals im Weg, Jaime.«
Ich wandte ihm das Gesicht zu, hob das Kinn …
»Ruf mich an, wenn du wieder im Haus bist«, sagte er. »Nur damit ich weiß, dass du sicher angekommen bist.«
Als ich zusah, wie er die Autotür schloss, hätte ich eine Sekunde lang fast vermutet, dass er mich einfach aufgezogen hatte – hier draußen und in dem Tunnel. Aber nein. Jeremy war das Verantwortungsbewusstsein in Person. Unter den gegebenen Umständen wäre ein Flirt das Letzte gewesen, was ihm in den Sinn käme.
Verdammt.
Er trabte um das Auto herum, um der Fahrerin die Adresse und ein paar Scheine zu geben. Als das Taxi anfuhr, fiel mir Jeremys Jackett wieder ein, und ich ließ das Fenster herunter.
»Dein …«, rief ich, aber er hatte sich bereits abgewandt und rannte zurück in den Schutz der Markisen. Eine Sekunde später war er im Schatten verschwunden – auf dem Weg zurück zu Botnicks Laden.
Ich kurbelte das Fenster wieder hoch.
»Er hat sein Jackett vergessen«, erklärte ich der Fahrerin, die im Rückspiegel zu mir herübersah.
Die junge Frau verdrehte ganz leicht die Augen, wie um mir zu verstehen zu geben, dass sie das Jackett eines Mannes gar nicht erst angenommen hätte. Ihr Pech. Ich habe eine offen gehaltene Tür oder einen zurechtgerückten Stuhl noch nie abgelehnt. Solange der Mann sich im Klaren darüber war, dass ich meine Türen auch selbst öffnen und meine Stühle selbst unter dem Tisch herausziehen konnte – so lange hatte ich gegen etwas Ritterlichkeit nichts einzuwenden. Und bei Jeremy war
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