Lockruf der Vergangenheit
Wahrheit zu sagen? Vor meiner Zimmertür blieben wir stehen. Durch die Nebelschwaden, die mich zu umgeben schienen, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Dabei wünschte ich mir verzweifelt, ihn eingehend betrachten zu können. Immer wieder hatte ich beim Essen versucht, an Anna vorbeizusehen, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, das das meines Vaters hätte sein können.
Henry redete mit leiser, beschwichtigender Stimme auf mich ein. Hatte ich diese Stimme als Kind gehört, wenn mein Vater mich getröstet hatte? Brüder sind sich häufig sehr ähnlich. War Henry ein Abbild meines Vaters?
Die Zimmertür ging auf, und ich wankte hinein. Der Schock und die Enttäuschung über Sylvias Tod setzten mir sehr zu. Ich fand zum Bett und ließ mich jetzt weinend darauf niederfallen. Ich spürte Henrys Nähe. Er stand besorgt über mich geneigt.
Ich weinte und ließ die ganze Enttäuschung aus mir herausströmen, ehe ich schließlich nach meinem Taschentuch kramte, mir die Augen trocknete und aufstand. Henry stand immer noch an meinem Bett, ein gutes Stück größer als ich, und betrachtete mich schweigend.
»Verzeih mir«, sagte ich stockend. »Es tut mir leid, daß ich so unhöflich war.«
»Es ist nicht unhöflich, um eine Tote zu trauern, Bunny.« Er nannte mich bei diesem Namen, als hätten meine Mutter und ich Pemberton Hurst erst gestern verlassen. Indem er mich Bunny nannte, überbrückte er die Kluft von zwanzig Jahren.
Als ich meine Tränen getrocknet hatte, sah ich endlich zu ihm auf. Ein Bild blitzte auf. Es war, als hätte sich flüchtig ein Vorhang geöffnet, um mir eine Szene auf der anderen Seite zu zeigen, und sei sogleich wieder zugefallen. Nein, keine Szene eigentlich, kein Bild, das ich festhalten konnte. Es war mehr ein Gefühl. Als ich in Henrys ausdrucksloses Gesicht sah, überkam mich ein tiefer Schmerz, Qual beinahe, die an etwas anderes grenzte, das ich in diesem Moment nicht benennen konnte. Die dichten Wimpern hingen schwer über seinen Augen. Die Nase war eine Spur zu groß, das Kinn kaum eingekerbt. Und die Ausstrahlung, die mir in dieser Sekunde bewußt geworden war, war eine Ausstrahlung tödlichen Verhängnisses. Ich sah in Henrys Gesicht und spürte, wie eine tiefe Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigte, ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Aber warum dieses Gefühl?
Und war dies das Gesicht meines Vaters? Henry, sicherlich Ende fünfzig, war ein stattlicher Mann, auch wenn sein Haar von Grau durchzogen war und sein Gesicht von den Jahren gezeichnet. Er war immer noch schlank und beweglich und hielt sich kerzengerade. Ich stellte mir vor, daß mein Vater, hätte er damals die Cholera-Epidemie überlebt, jetzt ähnlich aussehen müßte.
»Morgen wirst du dich besser fühlen, Bunny. Du brauchst jetzt vor allem Schlaf.«
»Ja«, sagte ich leise. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit begann zu weichen, mir wurde wohler. Gewiß hatte mich nur die unerwartete Nachricht von Sylvias Tod so aus der Fassung gebracht. »Ich bin froh, daß ich wieder hier bin«, sagte ich, mehr um mich selbst als ihn zu überzeugen. Er musterte mich aufmerksam mit forschendem Blick. Forschend. Das gleiche Wort war mir gekommen, als Anna mich gemustert hatte. Und genauso hatten Theo und Colin mich angesehen, so, als suchten sie noch etwas.
»Bunny«, sagte Henry, und seine Stimme klang weich und tröstlich, »warum bist du eigentlich zurückgekommen? Ich meine, warum bist du erst jetzt gekommen und nicht schon viel, viel früher?«
Ich wußte nicht, wie ich diese Frage beantworten sollte. Das beharrliche Schweigen meiner Mutter über dieses Haus und diese Familie hatte auf mich die Wirkung eines unausgesprochenen Gebots gehabt, Pemberton Hurst zu vergessen. Bis dieser Brief gekommen war. Der Brief von Tante Sylvia.
»Ich werde bald heiraten, Onkel Henry, und ich wollte vorher – « Er wich einen Schritt zurück. »Du willst heiraten!«
»Ja. Und ehe ich diesen neuen Abschnitt beginne, wollte ich wenigstens einmal noch meine Familie sehen und das Haus, wo ich geboren bin, und – «
»Bunny, wer ist der Mann?«
»Du kennst ihn nicht, Onkel. Er ist Architekt in London. Ein Schüler von Charles Barry. Er ist wohlhabend, Onkel, und aus guter Familie. Und er ist sehr gebildet. Ich lernte ihn – «
»Habt ihr den Tag schon bestimmt?«
»Wir wollen im nächsten Frühjahr heiraten. Er arbeitet an den Plänen für den Victoria-Bahnhof. Er hofft, daß man seinem Entwurf den Vorzug vor den anderen geben
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