Lockruf der Vergangenheit
wird – «
»Wir müssen ihn kennenlernen, Leyla«, sagte mein Onkel mit, wie mir schien, übertriebenem Ernst.
»Aber natürlich.« Ich sah Henry an. Irgend etwas stimmte nicht. Als er meine Verwirrung bemerkte, wurde er wieder weicher. »Bunny, Kind, du bist noch so jung, und es gibt eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt. Als du vor zwanzig Jahren mit deiner Mutter von hier fortgingst, fürchteten wir, daß wir dich niemals wiedersehen würden. Du warst unser Sonnenschein. Wir gehören alle einer Familie an, in unseren Adern fließt Pemberton Blut. Ich sehe es in deinem Gesicht. Du hast viel von Jenny, aber noch mehr von meinem Bruder Robert. Du und Theo, ihr ähnelt einander, ist dir das nicht aufgefallen? Ich bin einzig um dein Wohl besorgt. Und ich möchte, daß du dich hier zu Hause fühlst. Wir alle wünschen das.«
Aber das stimmt nicht, hätte ich am liebsten gerufen. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte so tun, als wäre dieser Mann mein Vater; ich könnte mich ihm in die Arme werfen. Aber das ging nicht. Er mochte mit mir verwandt, er mochte mir ähnlich sein, er blieb ein Fremder. »Bis morgen legt sich dieser schreckliche Wind bestimmt, dann kann ich dir das Grundstück zeigen. Es beschränkt sich nicht auf den Hügel, weißt du; es reicht viel weiter.«
»Ja, ich weiß. Das Wäldchen.«
Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, das zu sagen; die Wirkung jedenfalls, die es auf meinen Onkel hatte, war völlig unerwartet. Sein Gesicht veränderte sich, wurde hart und verschlossen. »Du erinnerst dich also an das Wäldchen?«
»Nein. Colin hat mir davon erzählt.«
»Ach so. Und was hat er dir erzählt?«
»Nur, daß wir dort gespielt haben.«
»Ja, wir haben große Ländereien. Fast der ganze Grund zwischen dem Haus und East Wimsley gehört uns. Du wirst mit der Zeit alles kennenlernen. Ich hoffe, du bleibst lange bei uns, Bunny. Ich hoffe es von Herzen.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
»Ah, da kommt Gertrude mit dem Tee. Schlaf gut, Bunny, morgen sieht alles ganz anders aus.«
Gertrude wartete, bis er gegangen war, dann kam sie mit dem Tablett leise herein. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich hatte den Eindruck, daß sie, als sie das Tablett auf den kleinen Tisch vor dem Kamin stellte und dann zum Bett ging, um das Kissen aufzuschütteln, verstohlen zu mir herüberblickte, als wage sie es nicht, mich offen anzusehen. Viel zu müde, um lange Umschweife zu machen, fragte ich unverblümt: »Erinnern Sie sich an mich, Gertrude?«
Sie hielt augenblicklich in ihrer Tätigkeit inne. »Ja, Miss Leyla, ich erinnere mich.«
»Es tut mir leid, aber ich kann mich an Sie nicht erinnern.« Ich ging um das Bett herum und stellte mich ihr gegenüber. »Sind Sie schon lange bei der Familie Pemberton, Gertrude?«
»Fast dreißig Jahre.«
Noch immer sah sie mich nicht an. Noch immer stand sie regungslos da, wie auf dem Sprung. Ich fand dieses Verhalten bei einer Frau, die mich wahrscheinlich versorgt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen war, ausgesprochen sonderbar. Sie schien beinahe Angst vor mir zu haben. »Danke für den Tee, Gertrude. Sonst brauche ich jetzt nichts mehr.« Schlurfenden Schrittes, das eine Bein etwas nachziehend, ging sie zur Tür. Der Schein des Feuers glänzte auf ihrem krausen Haar. Hatte dieser seltsame Gang nicht etwas Vertrautes? Hatte ich als Kind Gertrude beobachtet und mich gefragt, warum sie hinkte? Als sie die Tür öffnete, ergriff mich ein Gefühl – das Gefühl, diese Frau schon früher gekannt zu haben. »Haben Sie mich vermißt, als ich fort war, Gertrude?«
Sie fuhr herum, und ich sah erstaunt die Tränen in ihren Augen. »O ja, ich habe Sie schrecklich vermißt, Kindchen. Sie und Ihre liebe Mutter. Ich habe immer darum gebetet, daß Sie wiederkommen.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Und jetzt bin ich wieder da.«
»Ja, Kindchen.« Ihre Lippen zitterten. Ich konnte ihren Kummer nicht verstehen.
»Ich möchte so gern über früher sprechen. Können wir beide das nicht bald einmal tun?«
»Ach, ich habe ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen.«
»Das glaube ich nicht. Sie können mir von meiner Mutter erzählen und von meinem Vater – «
»Verzeihen Sie mir, Miss Leyla, aber Vergangenes gehört in die Vergangenheit. Eine schöne junge Frau wie Sie sollte sich nicht um Dinge kümmern, die aus und vorbei sind. Verzeihen Sie, daß ich das so sage.«
»Wenn Sie meinen…« Ich
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