Lockruf der Vergangenheit
Schlaf war unruhig, von grotesken Bildern und seltsamen Träumen gestört. Einer nach dem anderen suchten meine Verwandten mich im Traum auf: Henry, der mich in den Armen hielt wie ein Vater; Anna, die mit lauter Stimme Lügen erzählte, aber gleichzeitig flüsternd die Wahrheit sagte; Theodore, freimütig und offen, aber mit einem Lachen voller Falschheit; Colin mit seiner Unbekümmertheit um die Gefühle anderer; Martha, die sich über die Mode des nächsten Jahres ereiferte; Tante Sylvia in ihrem Grab; die ungesehene Großmutter Abigail, eine strenge Äbtissin in einem hohen Turm. Und schließlich Gertrude, die nahe daran zu sein schien, mir alles zu sagen.
Ich fühlte mich nicht sehr ausgeruht, als ich erwachte, aber ich freute mich zu sehen, daß die Sonne schien. Durch mein Fenster sah ich einen winterlichen Wald kahler schwarzer und grauer Bäume, von deren Ästen vereinzelte welke Blätter herabfielen. Der Wind war so stürmisch wie am Tag zuvor, doch der Himmel war so blau, wie ich ihn in London nie gesehen hatte.
Während ich mich ankleidete, dachte ich an den vergangenen Abend, und ich mußte lächeln über mein kindisches Verhalten. Ich mußte wirklich sehr müde gewesen sein, um mich derartig in einen solchen Zustand hineinzusteigern.
Entschlossen, mir durch nichts die Stimmung verderben zu lassen, stieg ich die Treppe hinunter ins Frühstückszimmer.
Meine Mutter und ich hatten selten in Ruhe gefrühstückt, da wir schon in aller Frühe mit der Arbeit beginnen mußten. Auch wenn es uns nach den ersten bitteren Jahren besser ging, mußten wir dennoch hart arbeiten, um uns unser tägliches Brot zu verdienen. Nachdem meine Mutter mir die Grundbegriffe des Schneiderhandwerks beigebracht hatte, betraute sie mich jeden Tag mit besonderen Detailarbeiten, die es mir ermöglichen sollten, eines Tages meine eigene Schneiderwerkstatt zu führen. Wir arbeiteten in unserer Wohnung und kauften die Stoffe bei Londoner Großhändlern. Und meiner Mutter war es im Lauf der Jahre gelungen, sich einen gewissen Ruf zu schaffen, und es mangelte uns nicht an Aufträgen.
Aber diese Tage waren jetzt vorüber. Ich war allein und ohne Familie; erst wenn ich meinen Platz bei den Pembertons wiedergefunden hatte, wußte, daß ich zur Familie gehörte, würde ich wieder gehen und Edward heiraten können.
Theodore war allein im Frühstückszimmer. Er stand auf und rückte mir einen Stuhl zurecht, ehe er sich wieder an seinen Platz setzte. »Hast du gut geschlafen, Leyla?«
»Danke. Die Ruhe hier ist herrlich, wenn auch etwas ungewohnt. In London wird es praktisch die ganze Nacht nicht still. Du hörst die Pferdewagen am Fenster vorbeirollen, die Musik in den Wirtschaften, das Geschrei der Straßenhändler, das Grölen der Betrunkenen.« Er lachte. »Wie kann man nur in der Stadt leben!«
»Ach, so schlimm ist es gar nicht.« Ich dachte an die vornehmen Herrschaftshäuser am Grosvenor und Belgravia Square und fragte mich, warum meine Verwandten kein Stadthaus hatten. »Warte nur, dir wird es hier gefallen. Sogar im Winter ist Pemberton Hurst sehr schön.«
Ein Mädchen brachte Tee und Toast. Theodore, der wieder tadellos gekleidet war, schlürfte genießerisch seinen Tee und betrachtete mich dabei wieder auf diese irritierende, forschende Weise.
Aber ich war entschlossen, mir den Tag nicht durch Phantasien verderben zu lassen. Tante Sylvia war tot; meine ganze Hoffnung ruhte nun auf den sechs Menschen hier im Haus, und ich hatte mir insgeheim geschworen, nicht eher von hier fortzugehen, als bis sie mich als eine der Ihren unter sich aufgenommen hatten.
»Aber nun sag doch mal, Leyla«, sagte Theodore, während er sich frischen Tee einschenkte. »Was hat dich nach Pemberton Hurst zurückgeführt?«
Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. Das war eine weitere Merkwürdigkeit, die mir auffiel: Wenn die Pembertons nicht gerade damit beschäftigt waren, die Vergangenheit mit Geplauder zuzuschütten, verlegten sie sich darauf, mich nach dem Grund meiner Rückkehr zu fragen. »Zwanzig Jahre lang war meine Mutter meine ganze Familie. Als sie starb, fühlte ich mich sehr einsam. Verloren. Ich wollte wissen, woher ich komme, ich wollte wieder eine Familie haben.«
»Aber du bist doch verlobt. Du wirst bald eine eigene Familie gründen.«
»Ja, aber das ist etwas anderes. Die Familie, aus der ich stamme, sind die Pembertons. Das verstehst du doch, nicht?«
»Aber ja, natürlich.« Er schien damit zufrieden. »Übrigens,
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