Lockruf der Vergangenheit
begegnen, lief ich in mein Zimmer und schob den Riegel vor. Aber so warm und behaglich es war, es war nicht mein Zimmer. In diesem fürstlichen alten Gemach fand ich keinen Trost.
Rastlos lief ich hin und her. Das Gespräch mit meiner Großmutter war niederschmetternd verlaufen. Es war mir so wichtig gewesen, von ihr angenommen zu werden, aber darauf konnte ich jetzt nicht mehr hoffen. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, ihr Zorn und Verachtung zu zeigen, das würde sie mir niemals verzeihen. Und mit der Hoffnung, ihre Zuneigung zu erwerben, war auch alle Hoffnung dahin, den anderen in diesem Haus nahezukommen. Ich war nun ganz allein.
6
Nach endlosen Wanderungen durch mein Zimmer setzte ich mich müde und mutlos ans Fenster und starrte hinaus zu den sturmgeschüttelten Bäumen. Tausend Fragen bedrängten mich. Diese erste Begegnung mit meiner Großmutter hatte mich tief erschüttert. Warum wollte sie mich unbedingt von hier fortschicken? Von wem war sie, die kaum je ihr Zimmer verließ, so eingehend über mich und alles, was vorgefallen war, unterrichtet worden? Colin konnte nicht ihr Vertrauter sein; meine Bemerkung über mein Gespräch mit ihm hatte sie überrascht.
Selbst jetzt konnte ich das, was er mir im Stall erzählt hatte, kaum glauben. War ich wirklich im Wäldchen gewesen an jenem schrecklichen Tag und hatte die Geschehnisse mit angesehen? Und wie war ich plötzlich auf diesen Gedanken gekommen, es könnte noch eine dritte Person im Wäldchen gewesen sein? War er völlig aus der Luft gegriffen oder hatte er seinen Ursprung in einer Erinnerung, die ich nicht mehr fassen konnte? Glaubte ich selbst überhaupt an diese Möglichkeit? Was war an der Behauptung, daß die Pembertons verflucht seien, jeder von ihnen zum Wahnsinn verdammt? Gab es eine Grundlage für dieses Schauermärchen?
Während ich über dies nachdachte, stellten sich noch weitere Fragen: Warum hatte Sylvia Pemberton, meine Tante, als einzige dieser Familie meine Rückkehr gewünscht? Was hatte sie veranlaßt, den Brief zu schreiben, der mich hierher geführt hatte? Aus welchem Grund hatte sie meiner Mutter geschrieben, ohne die anderen einzuweihen? Es war ein Rätsel, für das ich keine Lösung finden konnte. Nichts ergab einen Sinn.
Um mich zu trösten, dachte ich an Edward, an unsere Spaziergänge im Cremorne Park mit seinen romantischen Fußwegen, die vom Duft der blühenden Akazien erfüllt waren. Ich liebte Edward sehr. Er war so zuverlässig und aufmerksam, ein Mann, auf den jede Frau stolz gewesen wäre. Schon im nächsten Frühjahr würde ich seine Frau sein, und dann konnte ich Pemberton Hurst auf immer vergessen. Meine Gedanken wechselten zu Colin, meinem Vetter, der die Manieren eines Stallknechts hatte und niemals auf die Gefühle anderer Rücksicht nahm. Wie kam es, fragte ich mich, daß er nicht verheiratet war? Ein Klopfen an meiner Zimmertür riß mich aus meinen Gedanken. Martha trat ins Zimmer. An sie konnte ich mich immer klarer erinnern: Sie war ein stilles Mädchen gewesen, das einfache kleine Weisen auf dem Klavier gespielt und stundenlang über ihren Handarbeiten gesessen hatte. Sie hatte wie ich die dichten dunklen Wimpern der Pembertons, die etwas zu große Nase, das kleine Grübchen am Kinn. Eine hübsche Frau, die sich mit Geschmack zu kleiden verstand und viele häusliche Talente besaß. Und wieso war sie nicht verheiratet? fragte ich mich.
»Leyla, es gibt gleich Abendessen«, sagte sie und sah mir dabei forschend ins Gesicht.
Ich vermutete, daß mittlerweile die ganze Familie wußte, was geschehen war; daß Colin mir verraten hatte, worüber zu sprechen man ihnen allen verboten hatte. Und jetzt suchte Martha, teilnahmsvoll, wie sie war, in meinem Gesicht nach Zeichen von Schmerz und Niedergeschlagenheit.
»Leyla.« Sie trat mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »Es tut mir in der Seele leid, daß du die Wahrheit erfahren mußtest. Ich hatte gehofft – wir alle hatten gehofft, daß wenigstens ein Mitglied unserer Familie ein normales und glückliches Leben führen könnte, ohne die Belastung des drohenden Wahnsinns. Er wird mir so wenig erspart bleiben wie dir, Leyla, denn unsere Väter waren ja Brüder. Ach, es tut mir leid. Wenn Colin nur nicht so ein – «
»Nein, Martha, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Ich habe ihn beinahe gezwungen, es mir zu sagen. Ich spürte von Anfang an, daß ihr mir alle etwas verbergen wolltet. Früher oder später hätte ich es auf jeden Fall
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