Lockruf der Vergangenheit
wandte sich Theo in bemühtem Konversationston an mich, »ist es auf den Straßen in London jetzt eigentlich ruhiger, seit man das Steinpflaster durch Holz ersetzt hat?«
»Das Experiment ist völlig fehlgeschlagen, Theo. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Holz bei Regen so glitschig ist, daß man ständig Gefahr läuft auszurutschen. London wird wohl immer laut bleiben; für dich sicher ein Grund mehr, es nicht zu besuchen.«
»Ach, daran liegt es weniger. Wir Pembertons sind nun mal keine reiselustige Familie.« Das gleiche hatte er mir schon einmal erzählt. Die Pembertons seien seßhafte Leute, denen am Reisen nichts läge, hatte er gesagt. Aber warum reisten sie nicht?
»Aber es entgeht einem doch vieles, wenn man immer nur zu Hause sitzt«, meinte ich.
»Wir haben hier auf Pemberton Hurst alles, was wir brauchen«, warf Henry ein. »Wir brauchen die große Welt nicht, um uns zu unterhalten.«
Sonderbare Leute, meine Verwandten. Sie waren ja richtig stolz auf ihre Unbeweglichkeit und Zurückgezogenheit. Sie kamen mir vor wie eine eingeschworene kleine Gemeinschaft, die sich hinter ihren eigenen Mauern verschanzte, um niemanden sehen zu müssen und nicht gesehen zu werden.
Als ich auf Henrys Einwurf nichts erwiderte, fragte Anna, ohne mich dabei anzusehen: »Wann wirst du denn nun abreisen?«
»Tante Anna!« rief Martha. »Das ist aber wirklich nicht nett.«
»Ja, Leyla«, schloß Theo sich den Worten seiner Mutter an, »wie sehen deine Pläne aus, jetzt, da du alles weißt?«
»Jetzt, da ich was weiß?« Dies war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte.
»Nun, du wirst doch jetzt sicher von hier fort wollen, seit du erfahren hast, woran du dich nicht mehr erinnern konntest«, sagte Martha. Ich sah sie an. Auch sie wünschte meine Abreise. »Du meinst, die Sache mit meinem Vater?« Sie nickte.
»Ja, ich würde vielleicht schon morgen von hier abreisen, wenn ich die Geschichte glauben würde. Aber ich glaube sie nicht. Darum habe ich beschlossen, so lange zu bleiben, bis ich mich in aller Einzelheit erinnern kann, was damals vorgefallen ist.«
»Wie meinst du denn das?« Anna drückte wieder einmal dramatisch ihre Hand aufs Herz. »Willst du behaupten, daß wir lügen?«
»Nein, durchaus nicht. Es ist möglich, daß ihr diesen Tag anders seht, ohne es zu wissen. Aber ich habe das Gefühl, Tante Anna, daß mein Vater nicht getan hat, was ihr alle glaubt. Er ist unschuldig, das fühle ich.«
»Aber das ist doch absurd«, sagte Theo.
»Woher willst du das wissen?« fragte ich heftig. Jetzt verteidigte ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter und mich. »War denn einer von euch dabei? War denn außer mir einer von euch an dem Tag im Wäldchen und hat den Mord mitangesehen? Nein. Also, wie könnt ihr dann so sicher sein? Als ich hierher kam, hoffte ich, daß die Erinnerungen durch diese Umgebung von selbst wieder in mir geweckt werden würden. Aber das ist jetzt anders geworden. Ich bin nicht mehr bereit, tatenlos darauf zu warten, daß ich hier ein Stückchen und dort ein Stückchen Erinnerung erhasche. Ich werde alles daran setzen, mir die ganze Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen. Verstehst du das, Onkel Henry?«
»Du wirst dir selbst wehtun, Bunny. Du wirst dich an ein grauenvolles Ereignis erinnern, und die Bilder werden dich bis ans Ende deiner Tage verfolgen. Erspare dir das, Leyla.«
»Aber da doch sowieso der Fluch der Pembertons auf mir lastet, dem wir alle preisgegeben sind, werde ich diese zusätzliche Bürde wohl auch noch ertragen können.«
Henry verstand nicht, was ich meinte. Er beugte sich weit über den Tisch und sagte flehentlich: »Laß es ruhen, Bunny.«
»Ich kann es nicht ruhen lassen. Versteht ihr das denn nicht? Ich glaube nicht, daß mein Vater ein Mörder war. Ich glaube nicht, daß meine Mutter wegen böser Erinnerungen Hals über Kopf von hier geflohen ist. Ich glaube, sie hat mich fortgebracht, um mich vor etwas oder jemandem zu schützen. Im übrigen glaube ich auch nicht an den Pemberton Fluch. Wir befinden uns im Jahr 1857, in einer Zeit der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts. Gespenster und Verwünschungen gibt es nicht.«
»Aber es war doch der Fluch, der auf dieser Familie lastet, der deinen Vater zu seiner Tat getrieben hat.«
»So ein Unsinn!« Ich sprang zornig auf. »Meiner Meinung nach ist der Fluch nur eine Erfindung, eine Phantasterei, die sich jemand ausgedacht hat, um meinem Vater alle Schuld zuzuschieben und den
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