Lockruf der Vergangenheit
gewesen war. »Nein. Nur ganz selten.«
»Wenn du einmal welche haben solltest, kann ich dir ein Mittel empfehlen, das Wunder wirkt. Wenn du einmal schlimme Kopfschmerzen haben solltest.« Wieder nippte sie von ihrem Tee und betrachtete mich dabei über den Rand ihrer Tasse.
»Ich kann mir nicht denken, daß es für dich einen Grund gibt, länger hier zu bleiben, Leyla. Du hast gesehen, was du sehen wolltest. Es gibt gewiß keinen Anlaß – «
»Doch, einen«, unterbrach ich, meinen Zorn mühsam beherrschend. »Die fünf Jahre, die mir fehlen.«
»Unsinn. Es gibt viele Menschen, die an ihre Kindheit keine Erinnerung haben. Das ist ganz normal.«
»Aber ich müßte mich erinnern – wenigstens an einen bestimmten Tag in diesen fünf Jahren.«
Meine Großmutter nahm sich von den Biskuits auf der silbernen Schale. »Ich verstehe nicht.«
»Ich müßte mich zumindest an den Tag erinnern, an dem ich sah, wie mein Vater zuerst Thomas tötete und sich dann selbst das Leben nahm.«
Hätte ich meine Großmutter nicht aufmerksam beobachtet, so hätte ich die Reaktion gar nicht wahrgenommen. So aber entging mir nicht, daß sie einen Moment lang aus der Fassung geriet. Es zeigte sich in einem flüchtigen Zusammenzucken, einem Einsinken ihres mageren Körpers, als wäre sie nahe daran, die Haltung zu verlieren. Aber schon faßte sie sich wieder, straffte die knochigen Schultern und sah mir mit ihren schwarzen Augen ins Gesicht. Sie hatte also nicht gewußt, daß jemand mir von diesem Tag erzählt hatte.
»Es hat wahrscheinlich sein Gutes, daß du dich an diesen Tag nicht erinnerst. So ein Gedächtnisverlust kann ein Schutz sein, der einem ermöglicht, ohne die Belastung einer grauenvollen Erinnerung weiterzuleben.«
»Sicher. Aber vielleicht verlor ich auch das Gedächtnis, weil ich fürchtete, daß noch etwas geschehen würde. Und daß es mir geschehen würde.«
Ihre Unterlippe bebte. »Wenn du deinen Vater sterben sahst, konntest du nicht fürchten, daß er auch dich töten würde.«
»Das ist richtig. Es sei denn, daß gar nicht mein Vater tötete – sondern jemand anderer.« Nun war er ausgesprochen, der quälende Gedanke, der sich langsam in mir verdichtet hatte. Er hatte keinerlei wirkliche Grundlage, aber ich hatte ihn aussprechen müssen, um sie wissen zu lassen, was mich beschäftigte.
Mir klopfte das Herz. »Vielleicht sah das kleine Mädchen, das verborgen im Gebüsch stand, wie eine dritte Person ins Wäldchen kam und den Vater und den Bruder tötete. Das würde zweifellos ausreichen, um ein Kind mit solcher Angst zu erfüllen, daß es vergißt, was es gesehen hat. Wäre das möglich?«
Meine Großmutter war zornig. »Eine sinnlose Frage, Leyla. Wir wissen, daß dein Vater die Tat beging. Er war krank, geistig verwirrt – «
»Ja, ich weiß. Der Wahnsinn der Pembertons.«
Sie starrte mich an. »Wer hat dir das erzählt? Und wer hat dir gesagt, daß du an dem Tag dabei warst? War es Colin?«
»Ich verstehe nicht, warum in diesem Haus um die Wahrheit ein solches Geheimnis gemacht wird, Großmutter. Du warst offensichtlich bis gestern völlig sicher, daß ich vom Verlauf meines letzten Tages hier nichts mehr wußte. Und dir lag offenbar daran, daß ich die Wahrheit nie erfahren sollte.«
»Das ist eine Unterstellung!«
»Warum wolltest du mir die Wahrheit über jenen Tag verschweigen? Zwanzig Jahre sind seit diesen schrecklichen Geschehnissen vergangen. So schmerzlich kann es heute doch nicht sein, darüber zu sprechen. Fürchtest du, ich könnte mich an etwas erinnern? Fürchtest du, daß ich mich jetzt, da Colin mir die Geschichte erzählt hat, plötzlich an alles erinnern werde? Daß ich vielleicht vor mir sehen werde, was ich damals gesehen habe?«
»Das ist ja lächerlich! Warum sollte ich das fürchten?«
»Nur aus einem Grund: Weil eine dritte Person da war – «
»Niemand war da!« Ihre Stimme war schrill. »Es war dein Vater. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt, der Fluch, der auf allen Pembertons lastet. Keiner entgeht ihm, Leyla. Auch dein Vater konnte ihm nicht entrinnen.«
Ich meinte mich undeutlich zu erinnern, doch das Bild wurde nicht greifbar – es hatte jedoch mit den Händen meiner Großmutter zu tun. »Ich rate dir, dieses Haus zu verlassen. Am besten sofort. Du hast hier nichts zu erwarten. Wenn du Geld haben willst – «
»Ich will kein Geld.«
»Dann geh zurück zu deinem Architekten.«
»Du bist erstaunlich gut unterrichtet, Großmutter. Es würde mich interessieren, wer
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