Lockruf der Vergangenheit
es ist, der dir die letzten Neuigkeiten zuträgt. Ist es Onkel Henry? Tante Anna? Theodore? Oder Martha?«
»Du bist unverschämt, Leyla. Ich will, daß du gehst. Du bist deiner Mutter zu ähnlich; ausgesprochen ermüdend. Und du bist auch deinem Vater ähnlich. Deine Augen, dein Kinn…«
»Willst du mich vor dem Wahnsinn warnen, Großmutter? Die Frage, ob ich an Kopfschmerzen leide, war doch nicht müßiges Interesse, oder? Fängt die Krankheit so an?«
»Das wirst du schon noch merken, genau wie die anderen vor dir.« Wieder blickten wir einander in stummem Kampf an. Wie sehr mich dieses Gespräch erschüttert hatte; wie niederschmetternd es war, feststellen zu müssen, daß meine eigene Großmutter nicht willens war, mich mit der Herzlichkeit und Wärme aufzunehmen, die ich so verzweifelt ersehnte. Tiefe Traurigkeit erfaßte mich. Die Frau, die hier vor mir saß, war die Mutter meines Vaters; sie hatte ihn geboren, sie hatte seine Kinderjahre mit ihrer mütterlichen Fürsorge begleitet, sie hatte zugesehen, wie er zu einem stattlichen Mann heranwuchs. Und sie hatte auch mich von meiner Geburt an gekannt, mich vielleicht liebevoll in ihren Armen getragen… So gern wäre ich zwanzig Jahre zurückgegangen, wieder zum Kind geworden, um die Liebe und Geborgenheit einer Familie genießen zu können.
Aber das war vorbei. Was immer auch in den vergangenen Jahren geschehen war – seit jenem verhängnisvollen Tag –, ich war hier nicht willkommen.
»Ich glaube nicht an diesen Fluch«, sagte ich, »und es wundert mich sehr, daß du daran glaubst. Wenn du soviel über mich weißt, Großmutter, und erkennen kannst, wie sehr ich meiner Mutter ähnele, dann mußt du auch wissen, daß ich eine eigensinnige und hartnäckige Person bin und dieses Haus erst dann verlassen werde, wenn ich gefunden habe, was ich suche.«
Ich sagte das alles sehr ruhig, doch meine Worte trafen. Die harten schwarzen Augen funkelten mich zornig an.
»Ich sehe schon, du bist starrköpfig. Da du eine Pemberton bist, kann ich dir den Aufenthalt in diesem Haus nicht verbieten. Es ist allerdings fraglich, ob du das, was du hier in deiner blinden Entschlossenheit suchst, auch finden wirst. Ich kann dich nur warnen, Leyla.« Ihre Stimme wurde laut und beschwörend. »Vergiß nicht, daß auch du das Erbe der Pembertons in dir trägst. Ich rate dir, dieses Haus unverzüglich zu verlassen, am besten noch heute, und deinen Architekten zu heiraten, solange dir noch Zeit bleibt, dein Glück an seiner Seite zu genießen. Aber ich weiß, daß du nicht auf mich hören wirst. Darum werde ich fürs erste – «
»Darum wirst du den anderen verbieten, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, Großmutter.«
»Du hast offensichtlich eine blühende Phantasie, Leyla.« Sie neigte sich zur silbernen Schale und nahm eines der Biskuits. Ein Bild ihrer Hände schoß mir blitzartig durch den Kopf. Sie sahen anders aus als in diesem Moment, nicht so knochig, aber ich wußte, daß es ihre Hände waren. Und an der einen Hand leuchtete ein Ring – ein Ring mit einem roten Stein. »Es ist ungezogen, den Tee, den einem die Gastgeberin anbietet, stehenzulassen.«
Das flüchtige Bild erlosch. Ich sah zu meiner Tasse hinunter. Ich hätte den kostbaren importierten Tee gern gekostet, aber ich hatte keinen Stuhl und mochte im Stehen nicht trinken. Ich durchschaute das Spiel meiner Großmutter und war nicht bereit, mich von ihr beeinflussen zu lassen. »Ich habe heute schon sehr viel Tee getrunken, Großmutter, und ich bin müde. Ich ziehe es vor, jetzt wieder in mein Zimmer zu gehen.«
»Es ist gleichermaßen ungezogen zu gehen, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Mir scheint, deine Erziehung war sehr mangelhaft.«
»Das wird wohl darauf zurückzuführen sein, daß meine Mutter von morgens bis abends hart arbeiten mußte, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«
Damit drehte ich mich um und ging zur Tür. Als ich die Hand schon auf dem Knauf hatte, hielt ihre Stimme mich zurück.
»Du bist ein ungezogenes, junges Ding, Leyla, und von einer unverzeihlichen Unverschämtheit. Wenn du länger hier bleiben willst, wirst du deine Manieren ändern müssen.«
Ich ging hinaus und zog die Tür hinter mir zu. In meinen Augen brannten Tränen. Am liebsten hätte ich laut geweint wie ein kleines Kind. Das, was ich gesucht hatte, Liebe und Wärme, würde ich bei dieser unbeugsamen alten Frau niemals bekommen.
So schnell wie möglich, um nur ja keinem der anderen zu
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