Lockruf der Vergangenheit
eine junge Dame, Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu ziehen.«
»Ja, Großmutter«, sagte ich ein wenig verwirrt.
»Ich höre, daß du nur sehr wenig über uns weißt. Wenn das zutrifft, warum bist du dann zurückgekehrt?«
Nicht Neugier sprach aus der Frage; sie war ein Befehl an mich, meine Anwesenheit auf Pemberton Hurst zu rechtfertigen. Das war Großmutters Art, Fragen zu stellen. Die harten, glitzernden Augen blieben unverwandt auf mich gerichtet, so schwarz wie Gagat.
Ich dachte an den Brief. Hatte Großtante Sylvia vor ihrem Tod mit ihrer Schwester Abigail über ihn gesprochen? Ein Gefühl, das ich nicht hätte erklären können, hielt mich, wie schon einmal zuvor, davon zurück, etwas von dem Brief zu sagen.
Stumm maßen wir einander, ich nicht bereit, ihre Frage zu beantworten, sie meines Widerstrebens bewußt. Ihr Blick, dunkel unter schweren Lidern, schien mich bis ins Innerste zu durchdringen, ohne etwas von ihren Gefühlen oder Gedanken preiszugeben. Als sie endlich sprach, fuhr ich erschrocken zusammen. »Vor zwei Tagen noch«, sagte sie, »war es hier auf Pemberton Hurst ruhig und friedlich. Dann bist du gekommen. Und mit dir kam dieser höllische Sturm. Hast du ihn mitgebracht, Leyla?«
»Ich bin aus London gekommen, nicht aus der Hölle.« Sie zog die dünnen Augenbrauen hoch, als wolle sie sagen, daß das für sie ein und dasselbe sei.
»Meine Schwiegertochter ist also tot, und nun ist ihre Tochter zurückgekehrt, um Ansprüche auf das Familienvermögen geltend zu machen.« Ich wußte, daß Großmutter Abigail versuchte, mich aus der Reserve zu locken, aber ich hatte nicht die Absicht, mich von ihr reizen zu lassen. Eine derartige Anspielung hörte ich hier nicht das erste Mal. Die Unterstellung, ich sei nur aus Habgier zurückgekehrt, konnte mich nicht mehr kränken.
»Ich bin zurückgekommen, weil ich meine Familie kennenlernen wollte, ehe ich im Frühjahr heirate. Zu einem früheren Zeitpunkt war es mir nicht möglich, da meine Mutter schwer krank war. Ich bin außerdem zurückgekommen, weil ich mehr über mich selbst erfahren will. Ich habe an die ersten fünf Jahre meines Lebens keinerlei Erinnerung.« Sie blieb völlig ruhig. Ich konnte nicht erkennen, ob meine Worte irgend etwas in ihr bewegt hatten, obwohl sie die Bitterkeit in meiner Stimme, als ich von meiner Mutter gesprochen hatte, deutlich gehört haben mußte.
Es klopfte. Auf die Aufforderung meiner Großmutter hin trat ein Mädchen mit dem Teetablett ein. Ohne ein Wort stellte sie es zwischen uns auf einen niedrigen Tisch und ging wieder hinaus. Als wären wir gar nicht unterbrochen worden, fuhr meine Großmutter zu sprechen fort. »Ich kann mir denken, daß Pemberton Hurst und die Familie nicht deinen Vorstellungen entsprechen. Keiner hier glaubte, dich jemals wiederzusehen, Leyla. Du mußt verstehen, daß die Familie eine Weile braucht, um sich auf diese überraschende Tatsache einzustellen.«
Wenn man bedachte, daß Großmutter Abigail kaum je ihre Räume verließ, wußte sie erstaunlich gut Bescheid. Vermutlich wurde Henry täglich zur Berichterstattung gerufen.
Mit steifen Bewegungen schenkte sie den Tee ein.
Ich betrachtete ihre ringlosen Hände und versuchte mir vorzustellen, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte, als ihre Söhne klein gewesen waren. Ich fragte mich, was für ein Mensch ihr Mann, Sir John, gewesen war, und welche Umstände zu seinem mysteriösen Tod geführt hatten. Was hielt Großmutter Abigail von Colins phantastischer Geschichte über den Wahnsinn der Pembertons? Sie war gewiß eine viel zu sachliche Frau, um solchen Geschichten Glauben zu schenken. Ein ganz neuer Gedanke stieg in meinem Kopf auf. Der Keim dazu war zweifellos in jenem Moment gelegt worden, als Colin mir die schreckliche Familiengeschichte erzählt hatte. Jetzt begann er langsam Formen anzunehmen.
Obwohl ich immer noch stand, schob sie mir auf dem kleinen Tisch Tasse und Untertasse herüber, dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und führte ihre Tasse an die Lippen.
»Seit Generationen trinken wir in diesem Haus nur Darjeeling Tee. Hat deine Mutter in London die Tradition fortgeführt?«
»Das konnten wir uns nicht leisten«, antwortete ich kurz. »Schade.« Sie trank einen Schluck und schürzte die schmalen Lippen. »Leyla, leidest du eigentlich an Kopfschmerzen?«
Ich sah sie verblüfft an. »Kopfschmerzen?« Diese Frage hatte mir doch schon einmal jemand gestellt. Ich konnte mich nicht entsinnen, wer es
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