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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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erfahren.«
    »Und jetzt, wo du es weißt – « sie drückte mir die Hände – »gehst du doch fort, nicht wahr? Damit du noch etwas von deinem Leben hast.« Ich sah sie verständnislos an.
     
     
    Beim Essen fehlte nur Colin. Keiner gab eine Erklärung für seine Abwesenheit, und ich fragte auch nicht danach. Die Stimmung war gedrückt. Ich vermutete, daß Großmutter die Schuld daran trug. Die Tatsache, daß ich jetzt wußte, was sie mir alle hatten verheimlichen wollen, war kein Grund zu solcher Gedrücktheit. Auch wenn es ihnen aus Rücksicht auf mich lieber gewesen wäre, daß ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters nie erfahren hätte, war doch noch lange kein Anlaß zu wortkarger Düsternis.
    Es sei denn, ich wußte immer noch nicht alles.
    Der Hammelbraten war köstlich, die Soße fein abgeschmeckt, die Kartoffeln gerade richtig gekocht. Aber obwohl alles bestens geraten war, blieb die Stimmung trübe.
    Anna saß mit verschlossener Miene vor ihrem Teller und mied geflissentlich meinen Blick. Mechanisch führte sie ihre Gabel zum Mund. Henry schien innerlich mit irgend etwas stark beschäftigt und aß fast nichts. Martha war lieb wie immer, warf mir teilnahmsvolle Blicke zu und bemühte sich, auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Theo hingegen, dem das Essen offensichtlich genauso schmeckte wie mir, schien mehrmals nahe daran zu sein, etwas zu sagen; aber jedesmal vermied er es doch und begnügte sich damit, mich fragend anzusehen. Ich wußte, was sie alle dachten, und ich war bereit, ihnen zu antworten:
    Für mich stand fest, daß ich bleiben würde. Als ich vor zwei Tagen nach Pemberton Hurst gekommen war, hatte ich vor allem eine Familie gesucht; mein Bedürfnis, die Jahre meiner Kindheit wiederzufinden, war zweitrangig gewesen. Im Lauf dieser wenigen Tage jedoch waren Dinge geschehen, die meine Bedürfnisse verändert hatten. Meine Vergangenheit war mir wichtig geworden; der Drang zu wissen, was sich damals in meiner Kindheit abgespielt hatte, wurde immer stärker. Ich erinnerte mich an Colins Worte, als wir an diesem Morgen den Stall verlassen hatten. »Geh fort von hier, Leyla. Geh zurück nach London und vergiß uns.« Und ich erinnerte mich auch meiner Reaktion auf diese Worte – ein zwingendes Gefühl, bleiben zu müssen. Die folgenden Stunden innerer Auseinandersetzung mit dem, was ich von Colin erfahren hatte, und das Gespräch mit meiner Großmutter hatten mich zu der Überzeugung gebracht – die nicht zu erklären war, die vielleicht auf einer verschütteten Erinnerung beruhte –, daß mein Vater unschuldig war.
    Ich konnte den Ursprung dieses Gefühls nicht erklären, ich konnte es nicht in Worte fassen, doch es war so stark, daß ich nicht anders konnte, als mich nun in all meinem Handeln von ihm leiten zu lassen. Die Aura der Hoffnungslosigkeit, die ich von Anfang an bei Henry wahrgenommen hatte, war, wie ich nun wußte, nicht meiner Phantasie entsprungen, sondern hatte ihre Grundlage in seiner Überzeugung, zum Wahnsinn verdammt zu sein. Warum sollte da jetzt mein inneres Gefühl, daß mein Vater unschuldig war an den Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht auch seinen Ursprung in einer vergessenen Wahrheit haben?
    Aufgrund dieser Überzeugung, daß mein Vater nicht getan haben konnte, was alle von ihm behaupteten, stand für mich fest, daß ich in Pemberton Hurst bleiben mußte, bis ich mich an jenen letzten Tag klar und deutlich erinnern konnte.
    So würde die Antwort auf die Fragen lauten, die, wie ich wußte, meine Verwandten beschäftigten: Ich glaubte nicht an die Schuld meines Vaters; ich wollte die Wahrheit in der Erinnerung suchen. Sollte ich mich tatsächlich plötzlich erinnern, was ich an jenem Tag im Wäldchen beobachtet hatte, so bedeutete das auch, daß ich mich auch des wahren Mörders erinnern würde. Wenn der Mörder einer jener Menschen war, die in diesem Augenblick mit mir beim Abendessen saßen, dann war ihre gedrückte und düstere Stimmung verständlich. Sie wollten nicht, daß ich mich erinnerte; sie wollten jemanden schützen.
    Als das Dessert aufgetragen wurde, eröffnete Henry das Gespräch. Wie in den vergangenen zwei Tagen versuchte ich mir vorzustellen, es sei mein Vater, dem ich zuhörte. Wie stets sprach Anna nur über Belanglosigkeiten, um, wie ich wußte, ihre wahren Empfindungen und Gedanken zu verschleiern. Wie stets hielt Martha sich aus dem Gespräch heraus, als hätte sie nichts im Sinn als ihre Stickerei.
    »Sag mal, Leyla«,

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