Lockruf des Blutes
Augen.
»Trish, was ist los?«
Sie hört auf zu kauen, und die Hand, in der sie das Sandwich hält, beginnt zu zittern.
Ryans Augen blitzen zornig auf. »Sie geht nicht zurück zu ihrer Mutter«, sagt er. »Wenn Sie sie dazu zwingen, laufen wir sofort wieder weg. Aber dann verlassen wir gleich Kalifornien. Wir gehen nach Mexiko. Sie werden uns niemals finden.«
Sein Ton ist hitzig und verzweifelt – ein Junge, der versucht, einer Erwachsenen zu erklären, welcher Dämon seine beste Freundin bedroht, aber zugleich fürchtet, dass die Erwachsene ihm nicht glauben wird. Aber ich bin nicht wie die meisten anderen Erwachsenen.
»Hat dir jemand weh getan?«, frage ich sanft.
Ryan streckt die Hand aus und berührt sacht ihre Schulter. »Erzähl es ihr«, sagt er. »Sonst tue ich es.«
Trish lässt die Hand langsam sinken, das Sandwich fällt ihr aus den schlaffen Fingern, während dicke Tränen über ihre Wangen kullern.
»Weißt du nicht mehr, was wir beschlossen haben?«
»Wir kennen sie doch gar nicht«, murmelt Trish.
Er weist mit einem Nicken auf mich. »Ja, aber schau dir mal Cujo an. Er mag sie, also kann sie nicht nur böse sein.«
Ich lege Cujo eine Hand auf den Kopf, um seine hervorragende Menschenkenntnis noch zu betonen, doch der Hund blickt zu mir auf und lässt die Zunge heraushängen, als wäre es höchste Zeit, mir mal wieder sabbernd das Gesicht zu küssen. Sanft, aber entschieden drücke ich seinen Kopf herunter, bevor er Gelegenheit dazu hat.
Ryan sieht mir fest in die Augen. »Und wenn sie vorhätte, dich zurückzubringen, dann hätte sie deine Mom sicher schon angerufen, oder?«
Die Frage ist an mich gerichtet. Ich nicke. »Aber ich kann ihr nicht richtig helfen, solange ich nicht weiß, was passiert ist.«
Trishs Augen werden ausdruckslos, wie tot. »Meine Mutter«, sagt sie. »Meine Mutter ist mir passiert.«
Sie hält inne, sammelt sich. Ich versuche nicht, sie zu drängen oder weitere Fragen zu stellen. Mir schwant Übles – ich fürchte, mir wird nicht gefallen, was sie zu sagen hat. Außerdem verfestigt sich meine scheußliche Überzeugung, dass mein erster, instinktiver Eindruck von Carolyn Delaney sich gleich als richtig erweisen wird. Von dem Moment an, als die Frau das Haus meiner Eltern betrat, konnte ich sie nicht leiden und traute ihr nicht über den Weg.
Trish nimmt eine Papierserviette von dem kleinen Stapel auf dem Boden und trocknet damit ihre Tränen. »Meine Mutter war nicht immer …« Ihre Stimme versagt, bricht. Sie reibt sich erneut mit der Serviette die Augen und hebt dann das Kinn. »Sie war mal eine ganz gute Mutter. Wir haben manchmal etwas zusammen gemacht. Sind ins Kino gegangen. Oder Shoppen. Wir hatten nicht viel Geld, aber das war nicht so wichtig.«
Nichts ist so verstörend wie ein Kind, das seine Eltern verteidigt – oder so jämmerlich. Es sollte doch umgekehrt sein. Immer. Ryan legt Trish einen Arm um die Schultern. Diese einfache Geste scheint ihr Kraft zu geben. Sie richtet sich ein bisschen auf.
»Also, ich schätze, der ganze Ärger hat angefangen, als Dad uns vor ein paar Jahren verlassen hat. Er ist einfach gegangen. Mom sagt, sie weiß nicht, warum. Sie ist eines Morgens aufgewacht, und er war weg. Kein Brief. Gar nichts. Er hat uns einfach verlassen.«
Ich zucke unwillkürlich zusammen. »Dein Dad?«
Elend, so intensiv wie der Schmerz in ihrer Stimme, lässt ihre Schultern wieder herabsinken. »Ich habe lange geglaubt, ich wäre irgendwie schuld daran. Dass ich etwas getan hätte, weswegen er gegangen ist.« Sie sieht Ryan an, und sein ermunterndes Lächeln scheint die Last ein wenig leichter zu machen. »Ryan sagt, dass es bestimmt nicht meine Schuld war. Dass Erwachsene manchmal dumme Sachen machen, die gar nichts mit ihrer Familie zu tun haben. Wenn er das so sagt, kann ich ihm beinahe glauben.«
Sie sieht so traurig aus, dass ich sie am liebsten in den Arm nehmen und ihr sagen würde, dass es da noch eine andere Familie gibt, zu der sie gehören könnte. Eine gute Familie, die sie nie im Stich lassen würde. Aber dann müsste ich ihr auch erklären, dass ihre Mutter sie dreizehn Jahre lang belogen hat.
Wenn sie denn gelogen hat.
Aber eines ist sicher, irgendjemanden hat Carolyn belogen.
»Das mit deinem Dad tut mir leid«, sage ich und stolpere über das Wort Dad . »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du weggelaufen bist. Hat es etwas damit zu tun, was deiner Freundin zugestoßen ist?«
Trishs Brauen ziehen
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