Lockruf des Blutes
Frau zu und zückt seine Polizeimarke. »Ich bin Detective Harris«, sagt er. »Und Sie sind?«
Sie dreht sich zu ihm um, einen Ausdruck höflicher Gleichgültigkeit auf dem Gesicht. Sie ist knapp über eins fünfzig groß, zierlich, aber nicht mager, und trägt das silbergraue Haar in einem Knoten am Hinterkopf. Ihr Gesicht ist blass und schmal; die adlig wirkenden Wangenknochen sind dezent betont, ein Hauch von Rot liegt auf ihren Lippen. Sie trägt eine schwarze Hose und einen dunkelgrauen Wollblazer. Rote Seide blitzt aus den Ärmeln hervor, ihre Füße stecken in schwarzen Slippern mit Bommeln. Schlichte Eleganz. Am Ringfinger der linken Hand schimmert ein goldener Ring, doch die Diamantstecker in ihren Ohren sind so dick wie Bohnen.
Vielleicht doch nicht nur Understatement.
Sie faltet die Hände und blickt zu ihm auf. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Officer«, sagt sie.
Ein verärgerter Ausdruck huscht über sein Gesicht, doch er fasst sich rasch. Er ignoriert ihre Unverschämtheit. »Sie haben dem Officer hier gesagt, dass Sie Ihre Tochter Carolyn Delaney besuchen möchten. Ist das richtig?«
»Und wenn dem so ist?«
»Dann, fürchte ich, habe ich schlimme Neuigkeiten für Sie, Mrs. Delaney.«
»Der Name ist Mrs. Joseph Bernard«, sagt sie. »Mrs. Delaney stimmt schon lange nicht mehr.« Dann seufzt sie und schüttelt den Kopf. »Was hat Carolyn diesmal angestellt?«
Harris’ Stimme wird weicher. »Sie hat nichts angestellt, Ma’am. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das schonend beibringen könnte. Carolyn wurde heute Nachmittag ermordet.«
Carolyns Mutter zeigt keinerlei Reaktion auf Harris’ Worte. Kein Luftschnappen. Kein Zusammenzucken. Keinerlei Veränderung ihres Gesichtsausdrucks oder ihrer Körperhaltung. Sie steht da und starrt zu Harris auf, als warte sie resigniert, aber geduldig auf die Pointe eines schlechten Witzes.
Es ist Harris, der schließlich das unbehagliche Schweigen bricht. »Mein Beileid, Ma’am«, sagt er.
Der einzige Hinweis darauf, dass sie das zur Kenntnis genommen hat, ist eine leichte Bewegung von Kopf und Schultern, nicht ganz Achselzucken, nicht ganz Nicken.
Er versucht es noch einmal. »Ich fürchte, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Zum ersten Mal wendet sie den Blick von Harris’ Gesicht. Stattdessen fällt er auf mich. »Wer ist diese Frau? Ist das eine Freundin von Carolyn?«
Harris blickt zu mir zurück. »Sie sagt, sie sei eine Bekannte Ihrer Tochter. Sie heißt Anna Strong.«
Ehe Harris Einwände erheben kann, marschiert Carolyns Mutter mit langen, zielstrebigen Schritten auf mich zu. Vor mir bleibt sie stehen. »Anna Strong?«, fragt sie leise.
Ich nicke. »Mein Bei …«
Doch weiter komme ich nicht. So schnell, dass ich ihre Hand nicht abfangen kann, schlägt sie mir ins Gesicht.
Kapitel 23
N atürlich kann sie mich nicht wirklich verletzen, aber da sie mich überrumpelt, fliegt mein Kopf zurück, und meine oberen Schneidezähne reißen mir die Unterlippe auf. Mit einem Ausdruck der Befriedigung auf dem Gesicht sieht sie zu, wie ich mir das Blut vom Kinn wische.
Das ist das letzte bisschen Befriedigung, das sie auf meine Kosten genießen wird.
Das Geräusch der Ohrfeige, wie ein Schuss in der morgendlichen Stille, erschreckt mich fast mehr als der Schlag selbst. Alle in Hörweite halten inne und drehen sich zu uns um.
Detective Harris, ihr dicht auf den Fersen, reagiert auf einen körperlichen Angriff, der direkt vor seiner Nase stattfindet, nicht so, wie ein Polizist es tun sollte. Ein paar Schritte von uns entfernt bleibt er abrupt stehen und rührt sich nicht mehr vom Fleck. Er schaut nur zu. Das macht mich fast genauso wütend, wie geschlagen zu werden, denn ich weiß, was er da macht. Er wartet ab, ob eine von uns jetzt etwas sagen wird, das er später gegen uns verwenden kann.
Doch Mrs. Bernard vermutet das wohl auch, und er wird enttäuscht. Wir stehen da und starren einander schweigend an.
Schließlich tritt er hinzu, zieht sie ein Stück von mir weg und hält sie sacht mit einem Arm zurück. Sein Blick ruht auf mir. »Alles in Ordnung, Mrs. Strong?«
Das wäre ja sehr nett, wenn sein Gesichtsausdruck oder seine Stimme auch nur einen Hauch von Besorgnis erkennen ließen. Tun sie aber nicht.
Ich nicke und wische mir noch einmal das Kinn ab. Beinahe hätte ich danach die Finger an die Lippen geführt, um das Blut abzulecken. Mrs. Bernards Gesicht, wenn ich das täte, wäre es wert, genauso wie Harris’
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