Lockruf des Blutes
schockierte Reaktion. Aber ich halte mich zurück und kühle meine Wut damit, die Frau anzustarren.
Harris’ Aufmerksamkeit wendet sich sofort wieder Carolyns Mutter zu. Sie steht still neben ihm, wehrt sich nicht, tut gar nichts, außer mich ebenfalls anzustarren. »Würden Sie mir bitte erklären, warum Sie diese Frau gerade angegriffen haben, Mrs. Bernard?«
Sie reißt den Blick von mir los. »Der Bruder dieser Frau hat das Leben meiner Tochter ruiniert. Er war ein verantwortungsloser, gewissenloser Mann, der ein liebes, unschuldiges junges Mädchen ausgenutzt hat. Er hat sie geschwängert und sie dann sitzenlassen.«
»Sie sitzenlassen?« Meine Stimme bebt vor Zorn. »Er ist gestorben . Ich habe Ihre Tochter kennengelernt, als sie mit Steve zusammen war, Mrs. Bernard. Sie mag ja alles Mögliche gewesen sein, aber lieb und unschuldig ganz gewiss nicht.«
Ihr Gesicht verzerrt sich vor Wut, und nun lehnt Mrs. Bernard sich gegen Detective Harris’ Arm auf, der sie zurückhält. »Wie können Sie es wagen?«, faucht sie. »Sie kannten meine Tochter doch gar nicht.«
»Und Sie kannten Steve nicht.«
Harris reicht es jetzt. Er packt Mrs. Bernard fest am Arm und fixiert mich mit einem stahlharten Blick. »Wollen Sie Anzeige erstatten?«, fragt er mich.
Als ich den Kopf schüttele, fährt er fort: »Dann schlage ich vor, dass Sie jetzt gehen, Mrs. Strong. Falls ich weitere Fragen an Sie haben sollte, melde ich mich bei Ihnen.«
Gehen ist das Letzte, was ich jetzt tun will. Ich habe nichts über Carolyns Tod erfahren, was mir helfen könnte, die Verantwortlichen aufzuspüren. Aber mir ist auch klargeworden, dass ich das habe, wonach diese Männer gesucht haben – oder zumindest weiß, wo es ist –, nämlich den Computer. Und vermutlich weiß ich auch schon, wie sie aussehen – die beiden vor Freys Wohnung.
Ich habe viel mehr als die Polizei.
Nicht einen Augenblick lang bin ich versucht, Mrs. Bernard von Trish zu erzählen. Immerhin hat sie auch noch nicht daran gedacht, nach ihrer Enkelin zu fragen.
Meine Lippe blutet nicht mehr. Ich spüre das Kribbeln, wo die Wunde sich selbst repariert, die Schwellung zurückgeht und die gerissene Haut sich wieder schließt. Wenn ich in zehn Minuten die Stelle berühre, wo Carolyns Mutter mich geschlagen hat, wird keine Spur einer Wunde mehr zu ertasten sein.
Alles, was bleibt, ist brennende Wut.
Ich halte in der Einfahrt meiner Eltern. Mit meinem eigenen Schlüssel schließe ich auf und finde Trishs Bürste und Steves Milchzahn, in Watte eingewickelt, auf dem Esstisch, wie meine Mutter es versprochen hat.
Ich wickele den Zahn aus, betrachte dieses winzige Erinnerungsstück an den Verlust meiner Familie, und neuer Ärger auf Carolyns Mutter wallt in mir auf. Sie hat Steve die Schuld an allem gegeben, was ihrer Tochter zugestoßen ist, ohne die geringste Rücksicht auf meine Gefühle. Ich bin froh, dass meine Eltern ihre Bitterkeit nicht erleben mussten. Aber zumindest haben ihre Worte eines bestätigt. Auch sie glaubt, dass Steve Trishs Vater ist. Warum hat Carolyn Trish also all die Jahre lang belogen? Offensichtlich gab es kaum Kontakt zwischen Trish und ihren Großeltern. Denn sonst hätte Trish schon längst erfahren, dass Steve ihr richtiger Vater war.
Hat Carolyn also auch gelogen, als sie behauptet hat, Trish sei einmal zu ihren Großeltern weggelaufen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mrs. Joseph Bernard dem unehelichen Kind ihrer Tochter irgendetwas anderes als Verachtung entgegenbringt.
Zu viele Fragen und zu wenig Antworten.
Meine Finger schließen sich um den Zahn meines Bruders. Vielleicht kann ich zumindest auf eine Frage eine Antwort bekommen.
Ich habe keine Ahnung, wie man einen Vaterschaftstest durchführen lässt. Ich könnte unsere Hausärztin fragen, aber sie hat mich schon ein paar Mal angerufen, weil mein jährlicher Gesundheitscheck längst überfällig ist, und den werde ich so bald sicher nicht machen. Vielleicht finde ich etwas im Telefonbuch?
Das erste Stichwort, das ich in den Gelben Seiten suche – Gentest –, gibt es nicht. Aber unter »Laboratorien – medizinische« finde ich eine Anzeige mit dem Wort »Vaterschaftstests« in dicken Buchstaben. Ich wähle die kostenfreie Nummer und werde von einer Frau namens »Marty« begrüßt. Ich erkläre die Situation, und die Stimme am anderen Ende antwortet in mitfühlendem Tonfall:
»Es tut mir leid«, sagt sie, »aber es ist so – mit einem Milchzahn können wir
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