Lockruf des Blutes
Tuch heraus und wischt sich damit übers Gesicht. Dann greift sie in die große Tasche zu ihren Füßen und holt etwas heraus.
Es ist ein Fotoalbum.
Sie hält es uns entgegen wie eine Opfergabe. »Bilder von Trish. Ich dachte, Sie möchten sie vielleicht gern sehen.«
Weder Mom noch Dad machen Anstalten, es zu nehmen, doch ich kann nicht widerstehen. Ich lasse mich neben ihr auf die Couch sinken und schlage die erste Seite auf.
Ich kann anhand des Schulfotos nicht genau sagen, wie groß das Mädchen ist oder was sie für eine Figur hat, aber sie hat Ähnlichkeit mit meinem Bruder. Sie hat Steves dunkle, fast onyxschwarze Augen, groß und mandelförmig. Sie blickt direkt in die Kamera, ihre Gesichtszüge sind zart, ihre Lippen voll. Ihr Haar hat dieselbe Farbe wie meines, wie das meiner Mutter; es ist mit einer Spange zurückgebunden, einzelne Strähnchen spielen um ihre Schultern und ihr Gesicht. Sie lächelt, aber nur halbherzig. Sie hat eine beinahe geisterhaft anmutende Ausstrahlung. Ich kann mich nicht beherrschen. Ich hole tief Luft, stoße sie kräftig aus und halte das Bild hoch, damit meine Eltern es sehen können.
Das könnte das Kind meines Bruders sein.
Meine Mutter schnappt erstickt nach Luft. Ärger und Misstrauen sind verflogen. »Du lieber Gott.«
Carolyn sammelt ihre Sachen ein. »Ich weiß, dass das alles ein Schock für Sie war. Es tut mir leid. Ich wollte nur das Beste für Trish tun.«
Meine Mutter will aufstehen und Carolyn zur Tür bringen, aber ich drücke ihr das Album in die Hand. »Ich begleite Carolyn hinaus. Ich will ihr noch ein paar Fragen stellen.«
In Wahrheit will ich Carolyn etwas sagen, das nicht für die Ohren meiner Eltern bestimmt ist. Der Blick, den meine Mutter mir zuwirft, macht deutlich, dass sie ganz genau weiß, was hinter meiner scheinbar höflichen Geste steckt.
Doch sie widerspricht mir nicht.
Auch Carolyn lässt sich davon nicht täuschen. »Glauben Sie mir denn, dass sie Steves Tochter ist?«, fragt sie leise, sobald wir außer Hörweite sind.
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß nicht. Es kommt mir seltsam vor, dass Sie seit Monaten hier wohnen und schon die ganze Zeit über gewusst haben, dass meine Eltern Trishs Großeltern sind, sich aber jetzt erst dafür entschieden haben, die Bombe platzen zu lassen.«
»Ich habe Ihnen doch schon erklärt, dass … «
»Ich weiß, was Sie erklärt haben«, falle ich ihr scharf ins Wort. »Und jetzt will ich Ihnen etwas erklären. Falls Trish Steves Kind ist, ist sie mein Fleisch und Blut, und ich werde tun, was ich kann, um ihr zu helfen. Aber wenn Sie versuchen, uns reinzulegen, wenn Sie meiner Familie weh tun, dann schwöre ich, dass ich Ihnen das Leben zur Hölle machen werde.«
Trotz funkelt in Carolyns Augen auf, doch sie ist klug genug, ihm keinen Ausdruck zu verleihen. Sie nickt nur und geht die Vordertreppe hinunter. Sie blickt sich nicht noch einmal um.
Kapitel 5
E s ist elf Uhr, als ich Carolyn zur Tür bringe. Meine Eltern und ich verbringen die nächsten Stunden über dem Fotoalbum, das sie uns überlassen hat. Das Album ist klein und enthält hauptsächlich Trishs Schulfotos. Keine gemütlichen Schnappschüsse von Mutter und Tochter, keine förmlichen Familienporträts, keine Gruppenfotos mit anderen Verwandten. Meine Mutter holt ein Babyfoto von Steve, um es mit denen von Trish zu vergleichen. Die beiden Babys hätten Zwillinge sein können.
Aber sehen nicht alle Babys irgendwie gleich aus?
Ich kann zusehen, wie die Haltung meiner Eltern diesem Mädchen gegenüber ins Wanken gerät. Sie wollen , dass dies Steves Tochter ist.
Nicht lange, und wir liegen uns weinend in den Armen.
Sie bitten mich, bei ihnen zu übernachten. Doch zu den traurigen Wahrheiten des Daseins als Vampir gehört ein scharfes Bewusstsein für die alltäglichen Kleinigkeiten, die uns von den Menschen unterscheiden. Beispielsweise muss ich Spiegeln aus dem Weg gehen. Und natürlich hängt das Haus meiner Eltern voller Spiegel. Nachts ist es besonders schlimm, weil ich auch in von innen hell erleuchteten Fenstern kein Spiegelbild werfe. Bisher haben Mom und Dad nicht bemerkt, dass ich vor Sonnenuntergang sorgfältig alle Vorhänge zugezogen habe. Aber eines Tages werden sie sich fragen, warum ich so sehr darauf achte. Sie wohnen ganz oben auf dem Mount Helix, und vom Haus aus kann man von Del Mar bis nach Mexiko sehen. Ich habe diese Aussicht früher geliebt, vor allem nachts.
Also entschuldige ich mich und mache mich um zwei
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