Lockruf des Blutes
stünde ich in einem Expressaufzug. Ich stütze mich mit einer Hand auf den Schreibtisch, während diese seltsame Fahrt Frey nicht im mindesten zu beeindrucken scheint. Er bemerkt meine Hand auf dem Tisch und blickt mit einem schiefen Lächeln darauf hinab. Ich reiße die Hand zurück und richte mich auf.
Ich habe das Gefühl, lange zu fallen. Plötzlich muss ich daran denken, wie ich als Kind mit Steve und meinen Eltern zum ersten Mal in Disneyland war. Der Eingang zum Haunted House. Dieser köstliche, beängstigende Fall, bei dem ich Steves Hand so fest gepackt hielt, dass er sich schließlich mit einem Jaulen beschwerte.
In der Zeit, die es dauert, bis diese Erinnerung aufgestiegen und wieder verblasst ist, kommen wir zum Stehen. Frey dreht sich um und geht zu der Tür, durch die wir hereingekommen sind. Mit der Hand auf dem Türknauf blickt er zu mir zurück. »Bist du bereit?«, fragt er, diesmal nicht unfreundlich.
Ich nicke, obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin.
Aber Trish ist hier irgendwo. Und das bedeutet, dass mir nichts anderes übrigbleibt.
Kapitel 29
I ch weiß nicht, wie ich mir das unterirdische Hauptquartier aller merkwürdigen Gestalten der Nacht so vorstellen sollte, aber als ich eintrete, weiß ich, dass ich es mir so ganz sicher nicht ausgemalt hätte.
Wir betreten einen großen, quadratischen Raum, von oben mit extrem starken Lampen beleuchtet – man kann kaum glauben, dass man sich hier unter der Erde befindet. Weiß gestrichene, fensterlose Wände ziehen sich zur drei Meter hohen Decke hinauf. Und hier sind Leute. Eine Menge Leute, die ganz normal aussehen und sich auch normal »anfühlen«. Sie laufen herum, sitzen an Schreibtischen oder telefonieren mit Headsets auf dem Kopf, während ihre Finger emsig über Computertastaturen huschen.
Ich schüttele den Kopf. »Was verkaufen die denn? Immobilienfonds oder Schrottaktien?«
Frey schüttelt ebenfalls den Kopf, aber eher so, als hielte er mich für eine Idiotin. Er ignoriert die Frage, legt eine Hand an meinen Ellbogen und führt mich in den hinteren Teil des Saals.
Hier gibt es weitere Türen. Massive Holztüren ohne Fenster oder Türspione. Er führt mich zu einer davon, klopft leise und wartet ab.
»Komm herein, Daniel«, ruft eine fröhliche Stimme.
Ich blicke zu ihm auf und will schon fragen, wie derjenige wissen kann, dass er hier draußen steht, beiße mir aber auf die Zunge.
Sobald wir eintreten, fallen mir zwei Dinge auf. Erstens ist das Gefühl von Ruhe und Gelassenheit in diesem Raum mit nichts zu vergleichen, was ich je erlebt habe. Zweitens geht es definitiv von einer Frau aus – einem der exotischsten Lebewesen, das ich je gesehen habe.
Sie erinnert mich an eine Märchenprinzessin, groß, anmutig, schlank und lieblich. Sie trägt ein langes, rosafarbenes Gewand aus einem seidigen Stoff, der sich an ihren Körper schmiegt und wie feiner Nebel jede ihrer Bewegungen begleitet. Ihr Haar ist nicht blond, sondern golden, schulterlange Flechten umrahmen ihr Gesicht. Ihr Alter kann ich nicht einmal ansatzweise schätzen. Ihr Gesicht ist ein vollkommenes Oval, faltenlos, mit leuchtend blauen Porzellanaugen, eleganten Wangenknochen und vollen Lippen. Ich starre in diese Augen, kann den Blick nicht von ihr losreißen, und dann lacht sie leise.
»Du starrst mich an, Anna«, sagt sie.
Das weckt mich aus meiner Trance. »Du kennst meinen Namen? Hat Frey dir von mir erzählt?«
»Nein.« Sie kommt herüber und bleibt vor mir stehen. Sie hebt eine Hand vor mein Gesicht und hält dann inne. »Du hast doch nichts dagegen?«, fragt sie.
»Wogegen?«
»Dass ich dein Gesicht berühre?«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich möchte mir gern einen Eindruck davon verschaffen, wie du aussiehst.«
Ich brauche einen Augenblick, um das zu begreifen. »Du bist blind?«
»Allerdings.«
»Aber woher wusstest du dann, dass ich dich anstarre?«
Frey tritt an ihre Seite. »Sie ist eine Empathin, Anna. Sie fühlt, was du fühlst, aber sie sieht nur mittels Berührung.«
Sie steht vor mir, und diese riesigen Augen blicken ruhig, aber erwartungsvoll.
»Kannst du projizieren, was du siehst?«, frage ich sie. »Würde ich dann dasselbe sehen?«
»Ah«, sagt sie. »Es ist schon eine Weile her, seit du zuletzt dein Spiegelbild sehen konntest.« Sie neigt den Kopf zur Seite. »Aber so lange auch wieder nicht, nehme ich an. Das ist schließlich dein erster Besuch hier.«
Es wäre interessant zu wissen, wie ich mich verändert habe, seit ich
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