Lockruf des Blutes
durcheinander.
Trish starrt mich an, mit dem geschockten, glasigen Blick eines Menschen, dessen Gedanken ganz nach innen gewandt sind. Ich kann mir kaum vorstellen, was für schreckliche Bilder sie vor ihrem inneren Auge sieht.
»Trish? Bitte sprich mit mir, Liebes.«
Ich sehe ihrem Blick an, dass sie zu begreifen beginnt. Wie ein Ertrinkender, der aus dem Meer gezogen wurde, ringt sie keuchend nach Atem. Ihre Brust bebt, doch ich sehe keine Tränen. Sie fängt an zu zittern. Ich schlüpfe aus meiner Jacke und halte sie ihr hin. Wieder weicht sie zurück.
»Wie ist das passiert?«, fragt sie.
Das Bild von Carolyns zerschundenem Gesicht und das Wissen darum, was man ihr angetan hat, drängen sich mir auf. Aber ich könnte Trish ebenso wenig davon erzählen, wie ich sie daran erinnern konnte, warum sie hier gelandet ist. Ich lege die Jacke über die Sessellehne und nutze die kurze Pause, um meine Gedanken zu sammeln, bevor ich antworte.
»Die Polizei ist nicht ganz sicher.« Ein letzter schmerzlicher Versuch.
Aber sie durchschaut mich sofort, und Zorn blitzt in ihren Augen auf. »Lassen Sie das«, faucht sie. »Behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind. Sie wissen, was mir passiert ist. Sie wissen, welche Rolle meine Mutter dabei gespielt hat. Wurde sie ermordet wie Barbara? War es meinetwegen?«
Das Bild, das Trish beim Eintreten von sich selbst vermittelt hat, war nur zum Teil Sorrels Werk, das wird mir jetzt klar. Trish wollte unbedingt daran glauben, dass alles, was ihr passiert ist, ein Alptraum war, aus dem sie nun endlich aufgewacht ist. Vierundzwanzig Stunden Geborgenheit in einer sicheren Umgebung und die Aussicht darauf, dass ihr Leben wieder ihr gehören könnte, haben sie vor jugendlichem Optimismus schwindeln lassen.
Herrgott, ich will nicht diejenige sein, die diese Illusion zerstört. Dennoch bin ich nun zum zweiten Mal die Überbringerin schlimmer Neuigkeiten. Ihr von Barbara zu erzählen, war schlimm genug. Wie zum Teufel soll ich ihr erklären, was ihrer Mutter passiert ist?
Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich bin hier die Erwachsene. Ich sollte instinktiv wissen, wie man so etwas macht. Aber den Kummer in ihrem Gesicht und das Grauen in ihren Augen zu sehen, macht mich sprachlos.
Ich wünschte, meine Mutter wäre hier. Die Tür geht auf, und einen verrückten Moment lang glaube ich tatsächlich, meine Mutter sei gekommen, um uns beide zu retten.
Aber natürlich ist sie es nicht. Frey kommt herein, und seine Miene wird weicher, als er Trish ansieht.
»Anna hat dir von deiner Mutter erzählt? Es tut mir sehr, sehr leid.«
Trish geht zu ihm und lässt sich von ihm in den Arm nehmen, lehnt sich an ihn, nimmt den Trost von ihm an, den sie von mir nicht haben wollte.
Das ist eine bittere Zurückweisung. Wenn ich Sorrel glauben darf, ist Trish meine Nichte. Ich sollte diejenige sein, die sie tröstet. Ich gehe einen Schritt auf die beiden zu.
Ich begegne Freys Blick, und er scheint meine Reaktion zu begreifen. Sanft schüttelt er den Kopf – eine Mahnung, Trishs Gefühle zu respektieren.
Sie wirkt. Ich weiß, dass er recht hat. Trish braucht jemanden, dem sie sich öffnen kann. Ich hatte gehofft, das würde ich sein. Aber wir kennen uns noch kaum einen Tag lang. Frey ist ein Lehrer, den sie mag und respektiert. Es ist nur natürlich, dass sie sich ihm zuwendet.
Aber es braucht mir nicht zu gefallen.
Frey führt Trish hinüber zu einem der Sessel und drückt sie sacht darauf nieder. Sie bleibt sitzen, umklammert aber seine Hand, als hätte sie Angst davor, ihn loszulassen. Er lächelt auf sie hinab und dreht sich zu mir um.
»Draußen ist jemand, der dich sprechen möchte«, sagt er.
»Mich?«, frage ich überrascht. »Wer weiß denn, dass ich hier bin?«
Er schüttelt den Kopf und setzt sich zu Trish. »Keine Sorge. Es ist jemand, den du kennst. Er wartet vor der Tür auf dich.«
Seine Worte sind ein sanfter Wink, dass ich die beiden jetzt allein lassen soll. Ich beuge mich vor, um Trish anzusehen, ihren Blick aufzufangen. »Ich bin gleich hier draußen, Trish. Wenn du mich brauchst, kann Frey mich jederzeit holen.«
Sie sieht mich an, aber ich bin nicht sicher, ob meine Worte zu ihr durchdringen. Alles, was ich in ihren Augen sehe, ist eine grauenhafte Leere.
Ich richte mich wieder auf. »Frey, kann ich dich einen Moment draußen sprechen?«
Er zögert, doch mein Gesichtsausdruck vermittelt offenbar das, was ich mit Worten nicht ausdrücken konnte. Das war keine
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